Entscheidungsstichwort (Thema)
Beendigungskündigung. Interessenausgleich mit Namensliste. Vorrang einer Änderungskündigung. Sozialplan. Vorruhestand. Altersdiskriminierung
Leitsatz (amtlich)
1. Durch kollektivrechtliche Regelungen auch in Betriebsvereinbarungen kann das zwingende Kündigungsschutzrecht nicht beschränkt werden.
2. Die mangelnde Reaktion eines Arbeitnehmers auf eine angebotene freie Stelle kann durch Betriebsvereinbarung nicht dahingehend fingiert werden, dass hierin eine „unmißverständliche, ernsthafte und endgültige” Ablehnungserklärung liegt.
Normenkette
KSchG § 1 V; BGB § 162; AGG §§ 1, 7 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Urteil vom 04.05.2011; Aktenzeichen 27 Ca 19523/10) |
Tenor
I. Das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 04.05.2011 – 27 Ca 19523/10 – wird teilweise abgeändert:
Es wird festgestellt, dass der ursprünglich gestellte Weiterbeschäftigungsantrag erledigt ist.
II. Die Berufungen des Klägers und der Beklagten werden jeweils zurückgewiesen.
III. Die Berufungskosten haben die Beklagte zu 4/7 und der Kläger zu 3/7 zu tragen.
IV. Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung vom 1. Dezember 2010, die das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 30. September 2012 auflösen soll. Weiterhin streiten die Parteien darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Abschluss einer Vorruhestandsvereinbarung auf Basis eines Sozialplanes hat.
Der am … 1962 geborene Kläger ist seit dem 1. August 1988 bei der Beklagten zuletzt als Anlagentechniker beschäftigt. Unter Berücksichtigung von 14 gezahlten Gehältern beträgt sein Bruttomonatsentgelt 5.247,19 EUR. Die Beklagte, ein Tabakunternehmen mit Hauptsitz in H., beschäftigt ca. 2.000 Mitarbeiter.
Unter dem 27. Februar 2009 und jeweils mit Änderungen vom 27. Oktober 2010 schloss die Beklagte mit dem bei ihr bestehenden Gesamtbetriebsrat bezogen auf die Stilllegung des Berliner Betriebes einen Interessenausgleich (Bl. 114 ff. d. A.), einen Sozialplan (Bl. 173 ff. d. A.) und eine Betriebsvereinbarung über Stellenbesetzungen (Bl. 134 ff. d. A.) ab.
Am 1. Dezember 2010 erhielt der Kläger die Beendigungskündigung zum 30. September 2012.
Hinsichtlich des Vorbringens der Parteien in der I. Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
- festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 1. Dezember 2010, zugegangen am 1. Dezember 2010, nicht aufgelöst ist;
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungsgründe endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 30. September 2012 hinaus fortbesteht;
für den Fall des Obsiegens mit den Anträgen zu 1. und 2. die Beklagte zu verurteilen, ihn entsprechend seinem Arbeitsvertrag zu unveränderten Bedingungen als Anlagentechniker bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Anträge zu 1. und 2. zu beschäftigen;
hilfsweise
- die Beklagte zu verurteilen, ihn nach B. IV. Ziff. 1 des Sozialplanes in der Fassung vom 27.10.2010 aufzufordern, schriftlich unbedingt und unwiderruflich gegenüber der Beklagten zu erklären, dass er um die Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung im Sinne des Gliederungspunktes B. IV. des vorgenannten Sozialplanes bittet.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Urteil vom 4. Mai 2011 hat das Arbeitsgericht Berlin den Antrag zu 4. als unzulässig zurückgewiesen. Der Antrag zu 2. sei ebenfalls unzulässig. Hinsichtlich der Anträge zu 1. und 3. hat es der Klage stattgegeben. Die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Die Beklagte könne sich trotz des abgeschlossenen Interessenausgleichs mit Namensliste nicht auf die Vermutungswirkung des § 1 V KSchG berufen, da feststehe, dass tatsächlich Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestanden hätten. Aufgrund des Interessenausgleichs in der Fassung vom 27. Oktober 2010 ergebe sich, dass Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten in L. vorhanden waren bzw. im Laufe der sukzessiven Betriebsstilllegung durch Verlagerung und Schaffung neuer Arbeitsplätze in L. bis zum Ablauf der Kündigungsfristen entstehen würden. Entsprechend der Anlage A 2 zum Interessenausgleich existierten insofern 187 freie Arbeitsplätze. Selbst wenn die im Kammertermin geäußerte Behauptung der Beklagten zutreffend sei, dass diese Arbeitsplätze z. B. durch Entfristungen sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge besetzt worden seien, so stehe dies der getroffenen Entscheidung nicht entgegen. In diesem Fall hätte die Beklagte mit der Besetzung dieser Stellen die Weiterbeschäftigung des Klägers treuwidrig vereitelt. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hätte die Beklagte eine Änderungskündigung aussprechen müssen. Die Beklagte könne sich auch nicht mit Erfolg auf die Betriebsvereinbarung zur Stellenbesetzung berufen. Zwar sei dort in § 4 Ziff. 1 geregelt, dass bei einer fehlenden Interessenbekundung auf ausgeschriebene Arbeitsplätze eine unmissverständliche, ernsthafte und endgültige Erklärung des Arbeitnehmers...