Entscheidungsstichwort (Thema)
Abmahnungsfreie außerordentliche Kündigung bei demütigender Tätlichkeit gegenüber einer Kollegin
Leitsatz (amtlich)
1. Es spricht vieles dafür, bei der im Kündigungsrechtsstreit zu beurteilenden Frage, ob die Annahme des Arbeitgebers, die zukünftige beanstandungslose Zusammenarbeit könne nicht bereits durch Ausspruch einer Abmahnung gesichert werden, objektiv unzutreffend war, auch das Verhalten des Arbeitnehmers nach Ausspruch der Kündigung zB. im gerichtlichen Verfahren zur Objektivierung der bei Kündigungsausspruch gestellten Prognose zu berücksichtigen (entgegen BAG 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 - BAGE 134, 349.)
2. Das Verhalten im Prozess und das sonstige Verhalten nach Ausspruch der Kündigung können insoweit klare Anhaltspunkte geben, ob die vor Ausspruch der Kündigung angestellte Prognose, dass die zukünftige beanstandungslose Zusammenarbeit nicht bereits durch Ausspruch einer Abmahnung gesichert werden kann, objektiv unzutreffend war. Macht der Arbeitnehmer nach Ausspruch der Kündigung durch sein tatsächliches Verhalten deutlich, dass er das ursprüngliche Fehlverhalten auf keinen Fall wiederholen werde, so kann sich nach Auffassung der Kammer auch hieraus ein Anhaltspunkt ergeben, dass die vor Ausspruch der Kündigung erstellte Prognose, eine zukünftige Zusammenarbeit sei nicht mehr möglich, objektiv falsch war.
3. Macht der Arbeitnehmer dagegen auch nach Ausspruch der Kündigung ggf. auch im Kündigungsschutzprozess deutlich, dass er sein Verhalten nicht als gravierend ansehe, spricht dies eher dafür, dass die Prognose vor Ausspruch der Kündigung, der Arbeitnehmer werde sein Verhalten auch in Zukunft nicht anpassen, objektiv zutreffend war.
Leitsatz (redaktionell)
1. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann, so dass ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig eine Abmahnung voraussetzen; einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 mit § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme der Arbeitgeberin nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich (für den Arbeitnehmer erkennbar) ausgeschlossen ist.
2. Greift der Arbeitnehmer eine Kollegin nicht nur körperlich an sondern spricht er die ihm körperlich unterlegene Kollegin, nachdem er sie in die Knie gezwungen hat, auch noch von oben herab grinsend mit den Worten "Na, was willst du denn?" an, darf die Kollegin diese Ausübung der physischen Machtposition nachvollziehbar als zusätzlich demütigend empfinden; stuft demgegenüber der Arbeitnehmer selbst sein Verhalten als "scherzhaft" ein und hat er der Kollegin zuvor bereits eine "Kopfnuss" verabreicht, ihr nach dem Essengehen "Friss nicht so viel, du wirst immer fetter" gesagt sowie mit einem gleichzeitigen Pickser in den Bauch geäußert "Pass mal auf, dass dein Bauch nicht dicker wird als deine Möpse", woraufhin die Kollegin sich auch dieses Verhalten mit Worten wie "Lass denn Scheiß" oder "Hör‚ endlich auf damit" verbeten hat, ist eine Abmahnung nicht erforderlich, da die Hinnahme eines derartigen Verhaltens der Arbeitgeberin nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich (für den Arbeitnehmer erkennbar) ausgeschlossen ist, insbesondere wenn der Arbeitnehmer nach Hinweis auf seine schwerwiegende Verletzung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht im Personalgespräch lediglich äußert, "wohl etwas übertrieben" zu haben und eine wirkliche Einsicht in sein Fehlverhalten vor Ausspruch der Kündigung nicht zeigt.
Normenkette
BGB §§ 626, 314 Abs. 2, § 626 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 06.05.2015; Aktenzeichen 56 Ca 348/15) |
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 06.05.2015 - 56 Ca 348/15 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen, hilfsweise außerordentlichen fristgemäßen verhaltensbedingten Kündigung.
Der zum Kündigungszeitpunkt 55 Jahre alte, ledige Kläger war seit dem 11.05.1979 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern beschäftigt. Er kann nach § 39 Abs. 2 TV-Charité nur aus einem wichtigen Grund gekündigt werden.
Die Beklagte wirft dem Kläger drei Vorfälle in Bezug auf dessen Kollegin Frau Sch. vor, deren genaue Abläufe zwischen den Parteien streitig sind.
Am 15.12.2014 informierte die stellvertretende Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Beklagten die zuständige Sachbearbeiterin und die zuständige Teamleitung im Geschäftsbereich Personal üb...