Entscheidungsstichwort (Thema)
Massenentlassungen im Bereich der Fluggastabfertigung. Unwirksame Massenentlassungsanzeige vor Abschluss der Verhandlungen mit dem Betriebsrat und unverhältnismäßig kurzer Fristsetzung zur abschließenden Stellungnahme
Leitsatz (redaktionell)
1. Gemäß § 17 Abs. 2 KSchG darf die Arbeitgeberin eine Massenentlassung erst vornehmen, nachdem das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat abgeschlossen ist.
2. Das Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG ist jedenfalls dann nicht abgeschlossen, bevor die Arbeitgeberin dem Betriebsrat nach der Erteilung aller zweckdienlichen Auskünfte nicht genügend Gelegenheit für eine abschließende Stellungnahme gegeben hat.
3. Eine dem Betriebsrat eingeräumte Frist für die abschließende Stellungnahme von nicht einmal 24 Stunden ist den Umständen nach zu kurz, wenn der Betriebsrat als Kollegialorgan keine realistische Möglichkeit hat, tatsächlich eine Stellungnahme abzugeben. Jedenfalls ist dem Betriebsrat die Einhaltung einer derart kurzen Frist nach den Grundsätzen der vertrauensvollen Zusammenarbeit des § 2 Abs. 1 BetrVG nicht zumutbar.
Normenkette
KSchG § 17 Abs. 2; BetrVG § 2 Abs. 1, § 29 Abs. 2 S. 3; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3, § 17 Abs. 2 Sätze 1-2; EGRL 59/1998 Art. 2 Fassung: 1998-07-20
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 01.03.2016; Aktenzeichen 18 Ca 9498/15) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 01.03.2016 - 18 Ca 9498/15 - abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Beklagten nicht aufgrund der Kündigung vom 27.06.2015 zum nächstmöglichen Termin, welcher nach den Berechnungen der Beklagten der 31.01.2016 sein soll, mit Ablauf des 31.01.2016 aufgelöst worden ist, sondern über den 31.01.2016 hinaus ungekündigt weiter fortbesteht.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
III. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten - wie in zahlreichen Parallelverfahren - über die Wirksamkeit einer zweiten betriebsbedingten Kündigung vom 27.06.2015 wegen Betriebsstilllegung.
Der am ....1965 geborene Kläger war seit dem 05.12.1990 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin zuletzt als erste Fachkraft Fluggastabfertigung auf dem Flughafen Tegel in Berlin in Teilzeit (22 Wochenstunden) mit einem Bruttomonatseinkommen in Höhe von 1.800,-- EUR beschäftigt.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der W. Unternehmensgruppe und war an den Flughäfen Berlin-Tegel und Schönefeld tätig.
Die Beklagte erbrachte zu Beginn des Jahres 2015 mit insgesamt ca. 190 Arbeitnehmern weitgehend auf dem Flughafen Berlin-Tegel sowie mit zuletzt noch 14 Arbeitnehmern auf dem im Bundesland Brandenburg gelegenen Flughafen Berlin-Schönefeld verschiedene Dienstleistungen im Bereich der Passagierabfertigung (Passage Service). Einzige Auftraggeberin der Beklagten war die G. Berlin GmbH & Co. KG (GGB), die ebenfalls zur W. Unternehmensgruppe gehört.
Im September 2014 kündigte die GGB mit verschiedenen Schreiben alle Aufträge spätestens zum 31.03.2015. Unter dem 22.09.2014 fand im Umlaufverfahren eine Gesellschafterversammlung der Beklagten statt. In dieser wurde durch die GGB als alleinige stimmberechtigte Gesellschafterin der Beschluss gefasst, dass beabsichtigt sei, den Betrieb der Beklagten in Tegel und Schönefeld zum 31.03.2015 stillzulegen und die dem Betriebszweck dienende Organisation zu diesem Termin aufzulösen. Hierbei war die persönlich haftende Gesellschafterin der Beklagten, die A. P. S.Berlin Beteiligungs GmbH, nicht stimmberechtigt.
Zwischen der Beklagten und dem bei ihr bestehenden Betriebsrat fanden nachfolgend Verhandlungen zu einem Interessenausgleich und einem Sozialplan statt. Hierzu wurde auch eine Einigungsstelle einberufen. Mit Schreiben vom 02.01.2015 unterrichtete der Geschäftsführer der Beklagten den Betriebsrat "noch einmal formal gemäß § 17 Abs. 2 KSchG" über eine beabsichtigte Massenentlassung (Anlage BK 15).
Mit Schreiben vom 29.01.2015 erhielt der Kläger eine erste betriebsbedingte Kündigung. Mit der hiergegen erhobenen Kündigungsschutzklage obsiegte der Kläger auch zweitinstanzlich (19 Sa 1136/15; BAG 2 AZR 139/16).
Nachdem einige Kammern des Arbeitsgerichts Berlin eine Verletzung der Massenentlassungsvorschriften des § 17 KSchG festgestellt hatten, hat sich die Beklagte entschlossen, rein vorsorglich dieses Verfahren zu wiederholen.
Unter dem 10.06.2015 (Anl. B M 1 = Bl. 156 d. A.) hörte die Beklagte den Betriebsrat erneut zur geplanten Massenentlassung an. Am 24.06.2015 verhandelten die Betriebsparteien zwischen 12:50 Uhr und 18:50 Uhr. Für den Betriebsrat waren anwesend: Die Betriebsratsvorsitzende Frau H. ("CH"), das Betriebsratsmitglied Frau B., Herr Rechtsanwalt K. ("HK") und der Sachverständige Herr G.. Für die Beklagte deren Geschäftsführer ("BA") und Frau Rechtsanwältin R. ("UR"). Mit E-Mail vom 24.06.2015 (Anlage B M 10 = Bl. 185 d. A.) forderte...