Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist wegen Beteiligung an einem verbandsfreien Streik
Leitsatz (redaktionell)
Die Teilnahme an einem rechtswidrigen Streik außerhalb der Arbeitszeit des Arbeitnehmers kann grundsätzlich eine Verletzung der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers gemäß § 241 Abs. 2 BGB darstellen. Die Umdeutung einer nach § 626 Abs. 1 BGB unwirksamen Kündigung in eine ordentliche Kündigung ist nach § 140 BGB in Betracht zu ziehen, wenn dies dem mutmaßlichen Willen des Kündigenden entspricht und dieser Wille dem Kündigungsempfänger im Zeitpunkt des Kündigungszugangs auch erkennbar ist. Der Arbeitgeber ist nach § 612a BGB nicht berechtigt, einen Arbeitnehmer bei einer Maßnahme zu benachteiligen, weil dieser in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. § 6 S. 1 KSchG bietet dem Arbeitnehmer die Möglichkeit, auch nach Fristablauf des § 4 KSchG noch andere Unwirksamkeitsgründe in den Prozess einzuführen, auf die er sich zunächst nicht berufen hat.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 06.04.2022; Aktenzeichen 20 Ca 10257/21) |
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 6. April 2022 - 20 Ca 10257/21 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten zuletzt über die wirksame Beendigung des Arbeitsverhältnisses, den Übergang des Arbeitsverhältnisses wegen des Betriebsüberganges und die Weiterbeschäftigung.
Die Klägerin wurde von der A GmbH mit Arbeitsvertrag vom 4. Juni 2021 mit Wirkung vom 14. Juni 2021 befristet bis zum 13. Juni 2022 als Rider eingestellt (Anlage 2, Bl. 25 ff d.A.).
Die Beklagte zu 1) ist am 1. Oktober 2021 durch Aufspaltung der A GmbH zur Neuaufnahme gegründet worden. Der operative Bereich der A GmbH ist auf die Beklagte zu 1) übergegangen. Über den Betriebsübergang mit Wirkung zum 1. Oktober 2021 wurde die Klägerin in einem gemeinsamen Schreiben vom 30. September 2021 von der A GmbH und der Beklagten zu 1) unterrichtet.
Die Beklagte zu 1) betrieb im Oktober 2021 einen Onlinevertrieb für Lebensmittel. Die Lebensmittel, die von den Kunden per App bestellt werden können, werden in verschiedenen B gelagert und von Fahrern (sogenannten Ridern) per Fahrrad an die Kunden ausgeliefert. Die Klägerin war im B als Rider tätig.
Am 1. Oktober 2021 gegen 10:00 Uhr versammelten sich zahlreiche Fahrer, darunter die Klägerin, vor dem B. Es wurden Fahrräder als Zeichen des Protestes auf den Kopf gestellt. Die Schicht der Klägerin begann an diesem Tag um 7:15 Uhr und hätte um 14:00 Uhr enden sollen.
Am 2. Oktober 2021 erschienen die Rider, darunter die Klägerin, gegen 9:00 Uhr vor dem B und stellten erneut die Fahrräder auf den Kopf. Die Schicht der Klägerin begann um 10:45 Uhr und hätte um 15:15 Uhr enden sollen. Die Klägerin arbeitete an diesem Tag nicht.
Am 4. Oktober 2021 setzten die Streikenden den Streik fort. Die Schicht der Klägerin begann um 16:15 Uhr und hätte um 21:00 Uhr enden sollen. Die Klägerin arbeitete an diesem Tag nicht.
Die Beklagte zu 1) kündigte mit Schreiben vom 4. Oktober 2021, welches die Klägerin am 5. Oktober 2021 erhielt, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin außerordentlich aus wichtigem Grund fristlos.
Mit Wirkung vom 16. November 2021 ging der von der Beklagten zu 1) im B geführte Betrieb auf die Beklagte zu 2) über.
Die Klägerin hat sich mit ihrer beim Arbeitsgericht Berlin am 13. Oktober 2021 eingegangenen, der Beklagten zu 1) am 20. Oktober 2021 zugestellten und mit Schriftsätzen vom 25. Oktober 2021, und 18. November 2021 erweiterten Klage gegen eine Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses durch diese Kündigung gewandt und unter anderem Entgeltansprüche gegenüber der Beklagten zu 1) geltend gemacht. Mit beim Arbeitsgericht Berlin am 23. Januar 2022 eingegangenem, der Beklagten zu 2) am 2. Februar 2022 zugestellten Schriftsatz hat die Klägerin gegenüber der Beklagten zu 2) das Bestehen und Fortbestehen eines Arbeitsverhältnisses geltend gemacht.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die außerordentliche Kündigung sei unwirksam. Ein wichtiger Grund liege nicht vor. Die außerordentliche Kündigung sei auch als ordentliche Kündigung unwirksam.
Bei den auf den Kopf gestellten Fahrrädern habe es sich um eine gemeinsame Initiative gehandelt.
Am 1. Oktober 2021 habe ein dreiköpfiges Verhandlungskomitee, über dessen Zusammensetzung zwischen den Streikenden Einigkeit bestanden habe, mit Vertretern des Managements über die Forderungen der Streikenden gesprochen. An erster Stelle der Forderungen der Streikenden habe die faire Bezahlung aller Arbeitnehmer gestanden. Im Rahmen der Forderung "pünktliche und vollständige Bezahlung" sei eine spürbare Vertragsstrafe bei nicht vollständiger und unpünktlicher Bezahlung verlangt worden. Außerdem sei ein Bonus, gestaffelt nach dem Umfang der Bestellungen, gefordert worden.
Sie habe bei dem ihr vorgeworfenen Verhalt...