Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialplanabfindung. Unwirksamkeit einer Stichtagsregelung in einem Sozialplan. Unwirksame Stichtagsregelung in Sozialplan. Anspruch auf weitere Abfindung bei sachwidriger Schlechterstellung der vor dem Stichtag ausgeschiedenen Beschäftigten
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Betriebsparteien haben bei der Aufstellung eines Sozialplans einen weiten Ermessensspielraum, in welchem Maße und auf welche Weise sie die Nachteile einer Betriebsänderung für die betroffenen Beschäftigten ausgleichen oder mildern wollen und können dabei im Rahmen einer typisierenden Betrachtung auch davon ausgehen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die "vorzeitig" und damit zu einem früheren Zeitpunkt als durch die Betriebsänderung geboten aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden, keine oder geringere ausgleichsbedürftige Nachteile drohen als den anderen Beschäftigten.
2. Stichtagsregelungen müssen mit dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 BetrVG vereinbar sein; die Wahl des Zeitpunkts muss unter Berücksichtigung des zugrunde liegenden Sachverhalts sachlich vertretbar und mit dem Zweck des Sozialplans vereinbar sein.
3. Haben die Parteien des Sozialplans den Zeitpunkt seines Abschlusses am 17.08.2011 als Stichtag gewählt und diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die vor dem 15.06.2011 eine Eigenkündigung ausgesprochen oder einen Aufhebungsvertrag geschlossen oder vor dem 17.08.2011 einen Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag unter Abkürzung der Kündigungsfrist geschlossen haben, von einer ungekürzten Abfindungsleistung ausgeschlossen, ist selbst bei typisierender Betrachtung nicht ersichtlich, welche sachlichen Gründe für eine Schlechterstellung dieser Beschäftigten gegenüber denen, die erst nach dem Stichtag aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind, gegeben sein könnten.
4. Verlieren beide Personengruppen durch die Betriebsänderung ihren Arbeitsplatz und war beiden Gruppen bereits seit Ende des Jahres 2010 (spätestens mit Abschluss des Interessenausgleichs vom 16.02.2011) bekannt gemacht worden, dass ihr Arbeitsverhältnis nach dem 15.06.2011 betriebsbedingt gekündigt wird, kann weder davon ausgegangen werden, dass eine Eigenkündigung oder der Aufhebungsvertrag nicht durch die Betriebsänderung veranlasst worden ist noch davon, dass die wirtschaftlichen Nachteile für die erst nach dem Stichtag ausscheidenden Beschäftigten höher einzuschätzen sind als die der anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Normenkette
BetrVG § 112 Abs. 1, § 75 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Brandenburg (Entscheidung vom 01.08.2012; Aktenzeichen 3 Ca 177/12) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 01. 08. 2012 - 3 Ca 177/12 - dahin abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger 29.364,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit dem 01.10.2011 zu zahlen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen mit Ausnahme der durch die Anrufung des örtlich unzuständigen Arbeitsgerichts entstandenen Mehrkosten, die der Kläger zu tragen hat.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Zahlung einer weiteren Abfindung aus einem Sozialplan vom 17. August 2011 in Anspruch.
Nachdem die Beklagte die Stilllegung des Bereichs, in dem der Kläger seit dem 1. März 2003 als Außendienstmitarbeiter tätig war, angekündigt und den Kläger und die anderen Außendienstmitarbeiter ab dem 17. Dezember 2010 vom aktiven Außendienst entbunden und nur noch im Home-Office beschäftigt hatte, schlossen die Parteien am 10. März 2011 einen Aufhebungsvertrag zum 31. März 2011, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf die Fotokopie (Anlage 3 zur Klageschrift, Bl. 21 - 22 d. A.) verwiesen wird.
Am 16. Februar 2011 hatten die Beklagte und der bei ihr bestehende Betriebsrat einen Interessenausgleich vereinbart, in dem es auszugsweise heißt:
B. Personelle Maßnahmen
Aufgrund der Betriebsschließung werden folgende personelle Maßnahmen durchgeführt:
...
2.7 Mit Ausnahme derjenigen Mitarbeiter, deren Arbeitsverhältnisse infolge der in Ziffer 2.4 genannten Teilbetriebsübergänge auf die H. AG übergehen sowie der Mitarbeiter in Altersteilzeit (nachstehend: "nicht betroffene Mitarbeiter"), werden die Arbeitsverhältnisse sämtlicher Mitarbeiter von S. betriebsbedingt gekündigt (Beendigungskündigungen), soweit für sie nicht bereits Aufhebungsverträge gemäß nachstehender Ziffer 2.10. geschlossen wurden. Die Kündigungen dürfen frühestens am 15. Juni 2011 ausgesprochen werden. ...
...
2.10 Mit Ausnahme der nicht betroffenen Mitarbeiter haben alle Mitarbeiter das Recht, ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Interessenausgleichs bei S. den Abschluss eines Aufhebungsvertrages (vor Ausspruch der betriebsbedingten Kündigung) bzw. eines Abwicklungsvertrages (nach Ausspruch der betriebsbedingten Kündigung) bei der Personalabteilung zu beantragen. Der Antrag bedarf der Schriftform. Er muss von S. innerhalb v...