Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzesauslegung. unzumutbares Angebot im Unterbringungsverfahren. Fortdauer des Arbeitsverhältnisses bei Schließung einer Betriebskrankenkasse. Feststellungsklage einer ordentlich unkündbaren Angestellten bei unzumutbarem Weiterbeschäftigungsangebot

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei entsprechender Anwendung des § 164 Abs. 3 Satz 4 SGB V ist jede Betriebskrankenkasse verpflichtet, Anstellungen nach § 164 Abs. 3 Satz 3 SGB V anzubieten und die Angebote den Beschäftigten in geeigneter Form zugänglich zu machen; da gemäß § 164 Abs. 4 Satz 1 die Vertragsverhältnisse der Beschäftigten, die nicht nach § 164 Abs. 3 SGB V untergebracht werden, mit dem Tag der Auflösung oder Schließung enden, setzt dies nicht nur voraus, dass eine anderweitige Unterbringung nicht vorliegt, sondern auch, dass zuvor das gesetzlich vorgeschriebene Unterbringungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde, im Ergebnis aber nicht zur anderweitigen Weiterbeschäftigung der unkündbaren Beschäftigten der geschlossenen Betriebskrankenkasse geführt hat.

2. Nach § 164 Abs. 3 Satz 3 SGB V ist den Beschäftigten im Unterbringungsverfahren eine Stellung anzubieten, die ihnen unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeiten und bisherigen Dienststellung zuzumuten ist; demnach ist eine der Art der bisherigen Tätigkeit und ihrer Einordnung in die betriebliche Hierarchie entsprechende Stellung anzubieten, wobei das Entgelt annähernd dem Entgelt für die bisherige Tätigkeit entsprechen muss.

3. Ist die Angestellte der Betriebskrankasse mit 50 % der tariflichen Arbeitszeit teilzeitbeschäftigt, entspricht bereits ein Angebot auf Vollzeitbeschäftigung nicht ihrer bisherigen Tätigkeit; ebenso entspricht ein um 454,50 Euro brutto niedrigeres Entgelt nicht annähernd ihrem bisherigen Verdienst.

4. Auch wenn ein Ortswechsel die Zumutbarkeit des Angebots nicht generell in Frage stellt, hat die Arbeitgeberin bei einem neuen Beschäftigungsort, der nahezu 600 km vom bisherigen Arbeitsort in Berlin entfernt ist, im Hinblick auf das Alter der Angestellten und ihrer besonderen Ortsgebundenheit durch die Pflege der in Berlin lebenden Mutter zumindest näher darzulegen, weshalb eine ortsnähere Beschäftigung nicht möglich ist.

5. § 164 Abs. 3 SBG V verlangt, dass über den Bundesverband bei ihm selbst oder einzelnen Landesverbänden besetzbare Stellen für die von der Schließung betroffenen Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer aufgezeigt werden müssen, wobei die Verteilung dieser Stellen mindestens nach billigem Ermessen zu erfolgen hat; auch zur Verteilung dieser Stellen nach billigem Ausübung hat die Arbeitgeberin vorzutragen.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2; SGB V § 155 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 S. 9, § 164 Abs. 3 Sätze 3-4, Abs. 4 S. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3, Abs. 3; MTV § 20 Abs. 1; ZPO § 256 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 16.08.2012; Aktenzeichen 59 Ca 7750/11)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 16.08.2012 - 59 Ca 7750/11 - abgeändert.

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin aufgrund der Schließung der Beklagten nicht am 30.06.2011 beendet worden ist.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin weder durch die vorsorgliche außerordentliche Kündigung vom 19.05.2011 mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2011 noch durch die höchstvorsorgliche außerordentliche Kündigung vom 19.05.2011 mit sozialer Auslauffrist zum 31.12.2011 oder zu einem späteren Zeitpunkt aufgelöst worden ist.

II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt bei einem Gebührenstreitwert von 10.884,00 € die Beklagte.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses kraft Gesetzes sowie über die Wirksamkeit außerdem vorsorglich arbeitgeberseitig ausgesprochener Kündigungen.

Die am ....1956 geborene Klägerin, die ihre in Berlin ansässige Mutter als Pflegefall zu betreuen hat, war seit 05.04.1993 zunächst beim Land Berlin und seit 01.01.1999 bei der beklagten Betriebskrankenkasse bzw. deren Rechtsvorgängerin, zuletzt zu 50 % der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit mit einem Bruttomonatsentgelt von 1.814,00 €, als Angestellte beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis ist in Anwendung tarifvertraglicher Bestimmungen ordentlich unkündbar.

Am 07.04.2011 zeigte der Vorstand der Beklagten dem Bundesversicherungsamt (BVA) die Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung an. Das BVA ordnete daraufhin mit Bescheid vom 04.05.2011 die Schließung der Beklagten zum 30.06.2011 sowie die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an. Mit Schreiben vom 06.05.2011 (Bl. 9/10 d. A.) wies die Beklagte die Klägerin auf ein Rückkehrrecht zum Land Berlin und ein Weiterbeschäftigungsangebot seitens des BKK Landesverbandes Baden-Württemberg hin. Mit weiterem Schreiben vom 09.05.2011 (Bl. 11/12 d. A.) teilte die Beklagte der Klägerin u.a. mit, dass nach §§ 153, 155 Abs. 4 Satz 9, 164 Abs. 1 SGB V die Schließung der C. BKK zur Beendigung aller Arbeitsverhältnisse zum Schließungszei...

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