Entscheidungsstichwort (Thema)
materiell-rechtliche Verwirkung der Berufung auf den allgemeinen und besonderen gesetzlichen Bestandsschutz
Leitsatz (amtlich)
Der Berufung auf den besonderen Bestandsschutz nach § 9 Abs. 1 MuSchG kann im Einzelfall der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegenstehen.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2; MuSchG § 9 Abs. 1; BGB § 242
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Urteil vom 21.06.1988; Aktenzeichen 36 Ca 86/88) |
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 21. Juni 1988 – 36 Ca 86/88 – wie folgt abgeändert:
- Die Klage wird abgewiesen.
- Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
Die am 9. August 1957 geborene Klägerin, die verheiratet ist, trat am 1. November 1985 als kaufmännische Angestellte in die Dienste des Beklagten, der in der Regel mehr als 5 Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden beschäftigt. Sie erhielt zuletzt ein monatliches Gehalt in Höhe von 2.900,– DM brutto.
Am 29. März 1987 gebar die Klägerin ihr erstes Kind. Sie nahm bis einschließlich zum 28. Januar 1988 Erziehungsurlaub in Anspruch.
Mit Schreiben vom 11. Oktober 1987 hatte die Klägerin dem Beklagten mitgeteilt, daß ihr zur Betreuung eine Tagesmutter nicht zur Verfügung stünde und sie deshalb ihren Dienst frühestens Ende Mai 1988 wieder antreten könne. Darauf teilte der Beklagte der Klägerin mit eingeschriebenem Brief vom 22. Oktober 1987 unter anderem folgendes mit:
„Sehr geehrte Frau
in Beantwortung Ihres Schreibens vom 11.10.87 teilen wir Ihnen mit, daß wir einem unbezahlten Urlaub ab dem 29.01.1988 (am 28.01.1988 Ende des Erziehungsurlaubes) nicht zustimmen können.
wenn Sie am 29.01.1988 Ihre Vollzeit-Tätigkeit nicht wieder aufnehmen können, sehen wir dies als Kündigung Ihrerseits an.”
Die schriftliche Erwiderung der Klägerin vom 24. Oktober 1987 hatte unter anderem den nachfolgenden Inhalt:
„Sehr geehrter Herr
ohne eine von Ihnen ausgesprochene Kündigung verzichte ich selbstverständlich nicht auf die Erhaltung meines Arbeitsplatzes. In meinem Schreiben vom 11.10.87 brachte ich Ihnen bereits zum Ausdruck, daß ich meinerseits nicht zu kündigen gedenke.
Sollten Sie meinem unbezahlten Urlaub in Anschluß an den Erziehungsurlaub nicht zustimmen, so möchte ich Sie daran erinnern, daß wir beide einen Vertrag mit dort vereinbarten Kündigungsfristen unterzeichnet haben. Sollten Sie mir also nicht schriftlich kündigen, gehe ich davon aus, daß mir mein Arbeitsplatz erhalten bleibt.”
Der Beklagte stellte mit Schreiben vom 2. November 1987 nochmals klar, daß eine Beurlaubung der Klägerin nicht in Frage komme und sie am 29. Januar 1988 ihre Arbeit wieder aufnehmen müsse. Sodann teilte die Klägerin mit weiterem Schreiben vom 1. Dezember 1987 dem Beklagten mit:
„Sehr geehrter Herr
in Beantwortung Ihres Schreibens vom 2. November 1987 teile ich Ihnen mit, daß ich meinen Dienst am 29. Januar 1988 wieder aufnehmen werde, sofern Sie mir nicht zu diesem Zeitpunkt kündigen; diese außerfristgemäße Kündigung würde ich widerspruchslos akzeptieren.”
Ende Januar 1988 informierte der Beklagte den bei ihm bestehenden Betriebsrat von seiner Absicht, den Arbeitsvertrag der Klägerin zu kündigen. Am 1. Februar 1988 beschloß der Betriebsrat, sich zur Kündigung gegenüber der Klägerin nicht zu äußern. Der Betriebsrat sehe keine Veranlassung, der beabsichtigten Kündigung zu widersprechen oder Bedenken zu äußern. Daraufhin kündigte der Beklagte mit Schreiben vom 11. Februar 1988 den Arbeitsvertrag der Klägerin „termingerecht zum 31. März 1988”. Am 15. Februar 1988 wurde der Klägerin ärztlich bescheinigt, daß sie sich in der 8. Schwangerschaftswoche befinde und der 30. September 1988 der voraussichtliche Geburtstermin sei. Ihr zweites Kind brachte die Klägerin am 28. September 1988 zur Welt.
Mit der beim Arbeitsgericht Berlin am 26. Februar 1988 eingegangenen Klage hat sich die Klägerin gegen die vom Beklagten ausgesprochene Kündigung gewandt.
Sie hat zunächst geltend gemacht, die Kündigung sei allein schon deshalb rechtsunwirksam, weil der beim Beklagten bestehende Betriebsrat zu der von ihm ausgesprochenen Kündigung nicht ordnungsgemäß angehört worden sei.
Die Kündigung sei aber auch, so hat die Klägerin weiter ausgeführt, sozial ungerechtfertigt, da personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe nicht vorlägen. Darüber hinaus sei die Kündigung wegen ihrer erneuten Schwangerschaft auch nichtig.
Sie habe, so hat die Klägerin behauptet, mit dem Beklagten weder über eine einverständliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses verhandelt noch rechtswirksam auf den gesetzlichen Bestandsschutz verzichtet. Bei der Abfassung ihres Schreibens vom 1. Dezember 1987 habe sie sich in einer Notlage befunden, da sie keine Betreuungsmöglichkeit für ihr Kind gefunden habe. Jetzt stehe ihr jedoch eine Tagesmutter zur Verfügung. Da ihr Ehemann kurz vor der Ablegung seines Examens stehe, müsse sie für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen und sei ernsthaft an der Wiederaufnahme ihrer Tätig...