Entscheidungsstichwort (Thema)

Unbeachtlichkeit der gesetzlichen Altersgrenze bei Bemessung unverfallbarer Anwartschaft. Jahrelange Praxis der Versorgungszusage als Rückschluss zur Höhe der betrieblichen Altersvorsorge. Veränderung von Versorgungsregelungen nach § 2a BetrVG. Kein Abschlag von der Betriebsrente bei vorzeitiger Inanspruchnahme

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zu den Bemessungsgrundlagen, bei denen gemäß § 2 Abs. 5 S. 1 u. 2 BetrAVG a.F. bzw. § 2a Abs. 1 BetrAVG n.F. Veränderungen nach dem Ausscheiden des Arbeitnehmers außer Betracht bleiben, gehört auch die gesetzliche Altersgrenze. Im Rahmen einer Gesamtversorgung gilt dies sowohl für das Regelalter zum Bezug der Betriebsrente als auch für die Berechnung der anzurechnenden Sozialversicherungsrente.

2. Hat ein Arbeitgeber eine in einer Gesamtbetriebsvereinbarung geregelte Versorgungsordnung seit mehreren Jahrzehnten in der Weise angewandt, dass im Falle einer Inanspruchnahme der Betriebsrente vor Erreichen der Regelaltersgrenze selbst dann keine Kürzung vorgenommen worden ist, wenn die Arbeitnehmer vorzeitig ausgeschieden sind, so lässt diese Vollzugspraxis Rückschlüsse auf einen entsprechenden Regelungsinhalt zu.

 

Normenkette

BetrAVG § 2a; ArbGG § 64; BGB §§ 286, 288; ZPO § 97 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Essen (Entscheidung vom 08.03.2022; Aktenzeichen 2 Ca 1927/21)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 21.11.2023; Aktenzeichen 3 AZR 1/23)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 08.03.2022 - AZ. 2 Ca 1927/21 - wird zurückgewiesen.

  • II.

    Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

  • III.

    Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe der betrieblichen Altersversorgung des Klägers.

Der am 18.03.1955 geborene Kläger war vom 01.01.1981 bis zum 31.12.1998 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin (im Folgenden einheitlich: Beklagte) beschäftigt. Ihm war eine Versorgungszusage gemäß den zwischen dem Gesamtbetriebsrat und der Beklagten vereinbarten "Richtlinien für die Ruhegeld- und Hinterbliebenenversorgung der Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk Aktiengesellschaft, F." (im Folgenden: RL 02/89) erteilt worden. Diese lauteten auszugsweise wie folgt:

"Präambel

Durch die Neuregelung der Ruhegeldrichtlinien für die Mitarbeiter, die vor dem 01.04.1986 schon im Unternehmen beschäftigt waren, sollen die wirtschaftliche Belastung des Unternehmens verringert und die künftige Belastung kalkulierbar gemacht werden. Dies soll insbesondere erreicht werden durch:

- Abbau der Überversorgung,

- Ausgleich der seit 1966 eingetretenen und nicht in den Risikobereich des Unternehmens fallenden Mehrbelastungen,

- Begrenzung des Risikos des Unternehmens aus der Gesamtversorgung für den Fall, daß die Renten aus der Sozialversicherung sinken.

[...]

§ 2 Voraussetzungen für die Ruhegeldgewährung

(1)Voraussetzungen für die Gewährung von Ruhegeld sind:

1. das Bestehen eines mindestens zehnjährigen ununterbrochenen Arbeitsverhältnisses mit dem Unternehmen und

2. die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen

a) der Vollendung des 65. Lebensjahres oder

b) der Inanspruchnahme der vorgezogenen oder flexiblen Altersrente oder

c) einer durch den Rentenversicherungsträger anerkannten Erwerbsunfähigkeit.

[...]

§ 4 Höhe des Ruhegeldes

(1) Das Ruhegeld beträgt nach zehnjähriger Dienstzeit 35 v. H. des letzten nach § 5 ruhegeldfähigen Diensteinkommens [...].

(2) Für jedes vollendete Jahr, das der Mitarbeiter mehr als zehn Jahre ununterbrochen im Dienst des Unternehmens gestanden hat, steigt das Ruhegeld bis zum vollendeten 25. Dienstjahr um 2 v. H. und von da ab um 1 v. H. des letzten nach § 5 ruhegeldfähigen Diensteinkommens. [...]

(3) Der Höchstbetrag des Ruhegeldes darf 75 v. H. des letzten ruhegeldfähigen Diensteinkommens gemäß § 5 nicht übersteigen.

(4) Liegen die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 vor, beträgt das Ruhegeld mindestens 35 v. H. des letzten nach § 5 ruhegeldfähigen Diensteinkommens.

(5) Auf das Ruhegeld werden die Renten nach Maßgabe des § 6 angerechnet.

[...]

§ 6 Anrechnung von Renten und Einkommen aus Tätigkeit

[...]

(2) Das Ruhegeld wird um die Hälfte derjenigen Beträge vermindert, die dem Mitarbeiter aufgrund jeweils bestehender Gesetze über Renten [...] zustehen; [...]

(3) Bezieht ein in den Ruhestand versetzter Mitarbeiter vor Vollendung seines 65. Lebensjahres Einkommen aus einer selbständigen oder nichtselbständigen Tätigkeit, so dürfen diese Einkommen, zu dessen wahrheitsgemäßer Angabe der Mitarbeiter verpflichtet ist, und das Ruhegeld zusammen nicht höher sein als die Bezüge im Sinne des § 5 unter Berücksichtigung der Höchstgrenzen nach § 6 Abs. 5. [...]

[...]

§ 7 Minderung der gesetzlichen Renten

[...]

(2) Eine Kürzung der Sozialversicherungsrente des Mitarbeiters um Abschläge, die aufgrund vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand wegen der längeren Bezugsdauer der gesetzlichen Rente erfolgen, wird durch das Unternehmen nicht ausgeglichen und geht daher voll zu Lasten des Mitarbeiters.

[...]"

Wegen weiterer Einzelheiten wird ...

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