Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtswidrigkeit einer betriebsbedingten Kündigung wegen einer fehlerhaft getroffenen Sozialauswahl

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird bei einer Betriebsstilllegung ein sogenanntes Abwicklungsteam gebildet und über den Stilllegungstermin und den Kündigungstermin aller anderen betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmer hinaus mit Abwicklungsarbeiten weiterbeschäftigt (hier: für drei weitere Monate), sind die Arbeitnehmer des Abwicklungsteams - soweit keine Ausnahmen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG begründet sind - im Rahmen einer Sozialauswahl zu bestimmen.

2. Der Arbeitgeber ist bis zur Grenze der Willkür bei der Bestimmung des Anforderungsprofils der (vorübergehend) fortbestehenden Abwicklungsarbeitsplätze frei. Er muss im Kündigungsschutzprozess aber darlegen, nach welchen Kriterien er dieses festgelegt hat. Lässt sich seinem Vorbringen durch zwei Gerichtsinstanzen hindurch kein Anforderungsprofil der Abwicklungsarbeitsplätze entnehmen und bildet er zugleich bei 596 betroffenen Mitarbeitern mehr als 80 Vergleichsgruppen allein nach deren bisheriger, infolge vollzogener Produktionseinstellung bereits weggefallener Tätigkeit, erweist sich eine auf dieser Grundlage vorgenommene Sozialauswahl als von vornherein methodisch fehlerhaft.

3. Ist eine Sozialauswahl methodisch fehlerhaft vorgenommen worden, spricht in jedem Kündigungsschutzverfahren eine jeweils von dem kündigenden Arbeitgeber zu widerlegende tatsächliche Vermutung dafür, dass bei der streitgegenständlichen Kündigung die Sozialauswahlkriterien des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

4. Auch wenn methodische Fehler bei der Durchführung der Sozialauswahl festgestellt werden, führt dies gleichwohl nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, wenn die tatsächlich getroffene Auswahl zu Lasten des Gekündigten - und sei es auch nur zufällig - objektiv vertretbar ist. Die Darlegungs- und Beweislast hierfür liegt jedoch beim kündigenden Arbeitgeber.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2-3, 3 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Solingen (Entscheidung vom 17.05.2023; Aktenzeichen 7 Ca 1335/22)

 

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 17.05.2023 - Az.: 7 Ca 1335/22 - wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch über die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses durch die mit Schreiben der Beklagten vom 16.12.2022 ausgesprochene ordentliche Kündigung mit Wirkung zum 31.03.2023.

Der am 15.04.1971 geborene Kläger ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist seit dem 25.06.1997 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt als Schichtleiter Mechanik gegen ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von ca. 4.500,- €.

Geschäftsgegenstand der Beklagten ist die Herstellung und der Vertrieb von Aluminiumgussteilen, insbesondere von Leichtmetallrädern für Kraftfahrzeuge, sowie der Handel mit Kraftfahrzeugzubehör. Sie beschäftigte zuletzt 596 Arbeitnehmer. Im Wege der Nachwirkung ist sie an den Manteltarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie NRW gebunden. Ein Betriebsrat besteht ebenfalls in ihrem Betrieb.

Über das Vermögen der Beklagten wurde unter dem Aktenzeichen 145 IN 571/21 vor dem Amtsgericht Wuppertal am 01.03.2022 - in Verbindung mit dem Berichtigungsbeschluss des Amtsgerichts vom 07.03.2022 - wegen Überschuldung das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung eröffnet. Zum Sachwalter wurde Herr K. bestellt.

Die Beklagte führte mit dem Betriebsrat Verhandlungen unter anderem über einen Interessenausgleich wegen von ihr zum 31.12.2022 beabsichtigter Betriebsstilllegung. Diese Verhandlungen wurden durch Spruch einer diesbezüglich eingerichteten Einigungsstelle vom 24.11.2022 für gescheitert erklärt.

Nachfolgend stellte die Beklagte Anträge auf behördliche Zustimmung zur betriebsbedingten Kündigung nach dem SGB IX und dem BEEG. Den Arbeitnehmern wurde zudem die Gelegenheit eingeräumt, in eine Transfergesellschaft zu wechseln. Im Dezember 2022 wurden gegenüber allen Arbeitnehmern des Betriebs betriebsbedingte Beendigungskündigungen ausgesprochen, soweit das Ausscheiden der Arbeitnehmer nicht bereits aus anderen Gründen feststand (z.B. Befristungsende, Renteneintritt) und soweit eine ggfs. erforderliche behördliche Zustimmung zur Kündigung vorlag. Sämtliche Arbeitnehmer, bis auf solche, die Teil des sogenannten Abwicklungsteams waren, wurden ab dem 01.01.2023 unwiderruflich freigestellt.

Mit Schreiben vom 16.12.2022 kündigte die Beklagte auch das Arbeitsverhältnis des Klägers ordentlich zum 31.03.2023 und stellte ihn mit Wirkung ab 01.01.2023 unwiderruflich von der Erbringung der Arbeitsleistung frei.

Ausweislich der Anlage Abwicklungsteam (Anlage Q.) beschäftigte die Beklagte über den 31.12.2022 hinaus insgesamt noch 53 Arbeitnehmer, gegenüber denen ebenfalls Kündigungen mit Wirkung zum 31.03.2023 (14 Arbeitnehmer) bzw. zum 30.06.2023 (39 Arbeitnehmer) ausgesprochen wurden.

Der Kläger hat am 29.1...

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