Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Recht zur Änderung von Senioritätsregeln für beruflichen Aufstieg im Tarifvertrag. Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG bei Senioritätsregeln. Systemumstellung bei der Ausbildung vom First Officer zum Kapitän. Antrag auf Feststellung von künftig höherer Vergütung wegen beruflichen Aufstiegs. Teilweise Parallelentscheidung zu LAG Düsseldorf 12 Sa 443/22 v. 23.11.2022

 

Leitsatz (amtlich)

Die Tarifvertragsparteien dürfen die Senioriätsregeln für den beruflichen Aufstieg vom First Officer zum Kapitän durch nachfolgenden Tarifvertrag ändern. Sie haben dabei den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zu beachten und dürfen nicht gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen (wie Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 23. November 2022 - 12 Sa 443/22 -, juris, Revision anhängig unter dem AZ: 1 AZR 32/23).

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; ZPO § 253 Abs. 2, § 256 Abs. 1, §§ 257-259; GG Art. 9 Abs. 3; ZPO § 97 Abs. 1, §§ 308, 322

 

Verfahrensgang

ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 16.05.2022; Aktenzeichen 14 Ca 219/22)

 

Tenor

  1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 16.05.2022 - 14 Ca 219/22 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die zeitliche Geltung und die Wirksamkeit der Ablösung der tariflichen Senioritätsregeln. Daraus ableitend macht der Kläger einen Anspruch auf Ausbildung vom First Officer zum Flugkapitän, eine daraus folgende Beförderung, Schadensersatz auf Differenzvergütung sowie die Unterlassung der Anwendung bestimmter tariflicher Seniortiätsregeln auf ihn geltend. Für die Zukunft verlangt er, die Beklagte zu verpflichten, ihn bei künftigen Förderungsmaßnahmen zu berücksichtigen.

Der Kläger ist seit dem 12.01.2018 bei der Beklagten, die vormals als F. Luftverkehrs AG firmierte, bei einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 5.959,17 Euro zuzüglich einer Flugzulage i.H.v. 1.000,00 Euro brutto als First Officer an der Station R. beschäftigt. Er ist der Tarifgruppe F 10 zugeordnet. Seinen ersten kommerziellen Flug für die Beklagte erbrachte er am 21.01.2018. Im Anstellungsvertrag vom 12.01.2018 heißt es u.a.:

"3. Geltung von Tarifverträgen

(1) Auf das Arbeitsverhältnis finden die im Betrieb jeweils für die Berufsgruppe des Mitarbeiters einschlägigen, normativ geltenden Verbands- und Firmentarifverträge in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung. Derzeit sind dies der Manteltarifvertrag Nr. 6 für die Beschäftigten des Cockpitpersonals der F. GmbH sowie der Vergütungstarifvertrag Nr. 7 für die Beschäftigten des Cockpitpersonals der F. GmbH.

..."

Diese Bezugnahmeklausel ist nach dem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien so zu verstehen, dass sämtliche in Nr. 3 Absatz 1 Satz 1 genannten Tarifverträge Anwendung finden und der zweite Satz - beginnend mit "derzeit" - nur so zu verstehen ist, dass dies eigentlich ein "insbesondere" meint.

Die Beklagte beschäftigt im Cockpit sowohl Kapitäne als auch First Officer.

Im Zeitraum vom 29.04.2008 bis zum 21.09.2021 fand bei der F. Luftverkehrs AG und nachfolgend der Beklagten der zwischen der F. Luftverkehrs AG und der Vereinigung Cockpit e.V. (im Folgenden: VC Cockpit) abgeschlossene "Tarifvertrag Wechsel und Förderung für die Beschäftigten des Cockpitpersonals der F. Luftverkehrs AG" vom 29.04.2008 (im Folgenden: TV WeFö) Anwendung. Dieser regelte die Wechselmöglichkeiten zwischen Flugzeugmustern und zwischen konzernangehörigen Fluggesellschaften sowie die Förderung zum Kapitän für die Cockpitmitarbeiter. Er lautet auszugsweise wie folgt:

"§ 2 Seniorität

(1) Unter Seniorität ist eine besondere Art der Betriebszugehörigkeit zu verstehen, welche nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen festzustellen und zu berücksichtigen ist.

(2) Jedes Jahr wird für die bei EW Beschäftigten eine Senioritätsliste erstellt, die folgende Angaben enthält: laufende Nummer, Vorname, Nachname, TLC, Funktion, Flotte, 1. Kommerzieller Einsatz, Geburtsdatum.

(3) Innerhalb der Senioritätsliste richtet sich die Reihenfolge, in der die einzelnen Beschäftigten aufzuführen sind, nach dem kalendermäßigen Aufeinanderfolgen nach den §§ 3 und 4 festzusetzenden Daten.

§ 3 Festle...

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