Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Verletzung der territorialen Hoheit bei Teilnahme an einer Verhandlung durch Bild- und Tonübertragung aus dem Ausland. Beteiligtenfähigkeit des Betriebsrats bei Streit über seine rechtliche Existenz. Erzwingung der Teilnahme des Arbeitgebers an monatlichen Besprechungen mit dem Betriebsrat. Unterschreitung der vorgesehenen Betriebsratsgröße wegen zu geringer Anzahl von Wahlbewerbern. Verständnis des Gesetzgebers zu § 11 BetrVG. Analoge Anwendung einer Norm. Zwingende Teilnahme des Arbeitgebers an den Sitzungen des Wirtschaftsausschusses
Leitsatz (amtlich)
1. Gemäß § 128a Abs. 1 ZPO kann das Prozessgericht den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten auch gestatten, aus dem Ausland an einer Verhandlung eines deutschen Gerichts im Wege der Bild- und Tonübertragung teilzunehmen. Soweit nicht die Parteien oder Beteiligten persönlich angehört werden sollen, ist damit keine unzulässige Beeinträchtigung der territorialen Integrität des Aufenthaltsstaats verbunden.
2. Liegt die Anzahl der Wahlbewerber bei einer Betriebsratswahl unterhalb der Anzahl der gemäß § 9 BetrVG zu wählenden Betriebsratsmitglieder, ist in (ggf. mehrfacher) entsprechender Anwendung von § 11 BetrVG auf die (jeweils) nächstniedrigere Stufe des § 9 BetrVG so lange zurückzugehen, bis die Anzahl der Wahlbewerber ausreicht (Anschluss an: LAG Düsseldorf, Beschluss vom 4. Juli 2014 - 6 TaBV 24/14 -).
Leitsatz (redaktionell)
1. Grundsätzlich ist aus Gründen der territorialen Souveränität jedwede richterliche Tätigkeit auf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland beschränkt, es sei denn, die Tätigkeit im Ausland ist durch besondere Normen ausdrücklich erlaubt. Hoheitliche Gewalt unter Verletzung der territorialen Souveränität wird aber dann nicht ausgeübt, wenn den Parteien nur ihre Teilnahme aus dem Ausland gestattet wird, ohne dass eine Beweisaufnahme durchgeführt wird.
2. Der Beteiligtenfähigkeit des Betriebsrats steht nicht entgegen, dass aufgrund einer behaupteten Nichtigkeit der Wahl Streit über seine rechtliche Existenz besteht. Insoweit ist er als beteiligtenfähig anzusehen. Auch in Verfahren, in denen es um die Wahl, den Fortbestand oder die Zusammensetzung des Gremiums geht, ist ein Betriebsrat beteiligtenfähig. Dies gilt auch dann, wenn die Existenz des Betriebsrats eine Vorfrage der zu entscheidenden Anträge betrifft.
3. Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 BetrVG sollen Arbeitgeber und Betriebsrat mindestens einmal im Monat zu einer Besprechung zusammentreten. Durch § 23 Abs. 3 BetrVG soll ein Mindestmaß gesetzmäßigen Verhaltens des Arbeitgebers im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung sichergestellt werden, indem der Arbeitgeber zur Erfüllung seiner betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten angehalten wird.
4. Wenn § 11 BetrVG regelt, dass die nächst niedrigere Betriebsgröße zugrunde zu legen sei, so schließt das nicht aus, in Fällen, in denen das notwendig ist, auch noch weiter hinunterzugehen. Im Vordergrund muss der Wille des Gesetzgebers stehen, dass überhaupt ein Betriebsrat zu bilden ist. Demgegenüber muss die Frage der Größe des Betriebsrats zurücktreten. Hiernach ist es möglich, auch über die Vorschrift des § 11 BetrVG hinaus die Stärke des Betriebsrats zu vermindern.
5. Die analoge Anwendung einer Norm setzt voraus, dass eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigt gelassene Lücke vorliegt und diese Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann.
6. Die beharrliche Weigerung des Arbeitgebers, an Sitzungen des Wirtschaftsausschusses teilzunehmen und damit gegenüber dem Betriebsrat in diesem Rahmen der ihm obliegenden Informationspflicht nachzukommen, stellt einen groben Verstoß i.S.v. § 23 Abs. 3 BetrVG dar. Der Betriebsrat kann mit gerichtlicher Hilfe die Teilnahme des Arbeitgebers erzwingen.
Normenkette
ZPO § 128a; BetrVG §§ 9, 8, 11, 13 Abs. 2 Nr. 2, § 19 Abs. 1, § 23 Abs. 3, § 74 Abs. 1, § 108 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Hamburg (Entscheidung vom 15.11.2022; Aktenzeichen 11 BV 16/22) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin und unter ihrer Zurückweisung im Übrigen wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Hamburg vom 15. November 2022 - 11 BV 16/22 - teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Der Arbeitgeberin wird aufgegeben, monatliche Besprechungen mit dem Betriebsrat gemäß § 74 Abs. 1 BetrVG zu führen.
Der Arbeitgeberin wird aufgegeben, an den Sitzungen des Wirtschaftsausschusses gemäß § 108 Abs. 2 BetrVG teilzunehmen.
Im Übrigen werden die Anträge abgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird nur für die Arbeitgeberin zugelassen.
Gründe
A.
Die Beteiligten streiten über die Teilnahme der Arbeitgeberin an monatlichen Besprechungen mit dem Betriebsrat und an Sitzungen des Wirtschaftsausschusses.
Antragsteller und Beteiligter zu 1. ist der bei der zu 2. beteiligten Arbeitgeberin gebildete Betriebsrat. Die Arbeitgeberin ist ein Unternehmen im Bereich der Gesundheitsvorsorge und betreibt in Hamburg eine Klinik mit regelmäßig ca. 170 Arbeitnehmern.
Am 10. Mai 2022 wurde ...