Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksame außerordentliche betriebsbedingte Kündigung bei Schließung einer Betriebskrankenkasse

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei Schließung einer Betriebskrankenkasse gilt diese gemäß § 155 Abs. 1 Satz 2 SGB V als fortbestehend, soweit es der Zweck der Abwicklung erfordert.

2. Zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach § 164 Abs. 4 SGB V kommt es nur dann, wenn der Beschäftigten ein zumutbares Angebot gemacht worden ist; das gilt sowohl für ordentlich unkündbare als auch für ordentlich kündbare Angestellte.

 

Normenkette

BGB § 611 Abs. 1, § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3; SGB V § 154 Abs. 1 S. 2, § 155 Abs. 1 S. 2, § 164 Abs. 3 S. 3, Abs. 4; ZPO § 256 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 19.05.2011; Aktenzeichen 22 Ca 169/11)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 7. November 2011 - 22 Ca 169/11 - teilweise abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Kündigung der Beklagten zu 1. vom 19.05.2011 am 30.06.2011 oder 31.12.2011 endete.

Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch nicht gemäß § 164 Abs. 4 SGB V am 30.06.2011 endete.

Im Übrigen wird die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin zu 25%, die Beklagte zu 75%.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren über die gesetzliche Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses sowie die Wirksamkeit einer vorsorglichen Kündigung.

Die Betriebskrankenkasse der Ha. und die Betriebskrankenkasse Be. schlossen sich im Jahre 2004 zur Beklagten zu 1. Diese - geöffnete- Betriebskrankenkassebeschäftigte etwa 425 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Die 1967 geborene Klägerin ist Sozialversicherungsangestellte und war seit dem 1. August 1987 bei der Beklagten zu 1 bzw. ihrer Rechtsvorgängerin, zunächst als Auszubildende und ab 6. Juli 1990 in einem Arbeitsverhältnis, beschäftigt. Sie erzielte zuletzt auf Teilzeitbasis ein monatliches Bruttoeinkommen in Höhe von € 1.846,44. Sie ist nicht aufgrund von auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren tariflichen Regelungen ordentlich unkündbar. Für den Fall der Auflösung oder Schließung der Beklagten zu 1 besteht ein Rückkehrrecht zur Ha., das von der Klägerin auch wahrgenommen wird.

Am Standort Ha. ist ein Personalrat gebildet worden. Es existiert ein Hauptpersonalrat.

Die Beklagte zu 1 nahm in der Vergangenheit finanzielle Hilfen des B.-Systems in Höhe von knapp € 228 Millionen in Anspruch und wies bis zur Einführung des Gesundheitsfonds den höchsten aller Beitragssätze aus. Die gesetzlich vorgeschriebene Entschuldung konnte sie zum Ende des Jahres 2008 nur mittels eines Zuschusses des B.-Bundesverbandes erreichen. Die Auswertung der Daten für das vierte Quartal 2009 ergab einen Überschuss der Ausgaben von € 24,7 Millionen und einen Überschuss der Passiva von € 15 Millionen. Der daraufhin erhobene Zusatzbeitrag war nicht auskömmlich und führte zu zahlreichen Mitgliederverlusten. Für 2009 und 2010 wurde im April 2010 jeweils ein Defizit von etwa € 20 Millionen prognostiziert. Nach Vorlage der Jahresrechnung 2009 stand eine bilanzielle Überschuldung der Beklagten zu 1 fest. Im Rahmen eines Sanierungskonzepts wurden bis zu € 41,2 Millionen als "Finanzspritze" in Aussicht gestellt worden. Anfang April 2011 wurde festgestellt, dass sich die Verschuldung der Beklagten zu 1 auf etwa € 70,3 Millionen erhöht hatte. Nach Einschätzung des GKV-Spitzenverbandes war selbst unter Berücksichtigung realisierbarer Einsparungen durch Sanierungsmaßnahmen mit einem Anstieg der Verschuldung der Beklagten zu 1 zum Ende des Jahres 2011 auf mehr als € 98 Millionen zu rechnen. Der Vorstand der Beklagten zu 1 zeigte im Februar 2010 eine Überschuldung der Beklagten zu 1 an. Außerdem zeigte der Vorstand der Beklagten zu 1 im April 2010 dem BVA die bilanzielle Überschuldung an. Der B.-Bundesverband und der B.-Landesverband Ba.-W. gingen von einer Überschuldung der Beklagten zu 1 aus. Im Juli 2010 teilte die Beklagte zu 1 dem Bundesversicherungsamt (BVA) mit, dass an einem Sanierungskonzept gearbeitet würde, aufgrund dessen die Beklagte zu 1 bis Ende 2012 entschuldet sein würde. Das Sanierungskonzept basierte auf einer Absenkung von Ausgaben im Verwaltungs- und Leistungssektor durch Reduzierung des Personals, Streichung des Weihnachtsgeldes, Kündigung externer Dienstleistungsverträge Fallvermeidung und Ausbau von Projekten zur Patientenberatung sowie der Erhöhung des Zusatzbeitrages sowie finanzieller Hilfen aus dem B.-System.

Am 7. April 2011 zeigte der Vorstand der Beklagten zu 1 dem Bundesversicherungsamt (BVA) die Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung der Beklagten zu 1 an. Das BVA ordnete mit einem Bescheid vom 4. Mai 2011 (Anl. B 1, Bl. 51 f. d.A.) die Schließung der Beklagten zu 1 mit Ablauf des 30. Juni 2011 und die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an. Mit Schreiben vom 9. Mai ...

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