Entscheidungsstichwort (Thema)

Meistbegünstigungsgrundsatz im Prozessrecht. Rechtsmittel gegen den durch Beschluss verworfenen Einspruch gegen ein Versäumnisurteil. Verfahrensart bei sofortiger Beschwerde am Landesarbeitsgericht. Einspruchsfrist gegen ein Versäumnisurteil. Keine Zustellung eines bei der Post hinterlegten Briefumschlags bei Nichtabholung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird der Einspruch gegen ein Versäumnisurteil entgegen § 341 Abs. 2 ZPO durch Beschluss verworfen, sind nach Maßgabe des Meistbegünstigungsgrundsatzes sowohl die sofortige Beschwerde als auch die Berufung statthaft.

2. Wird sofortige Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt, ist das Verfahren vom Landesarbeitsgericht in dieser Verfahrensart fortzuführen, weil im Beschwerdeverfahren und im Berufungsverfahren unterschiedliche Spruchkörper zuständig sind.

3. Liegen die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung nicht vor, weil das Arbeitsgericht zu Unrecht davon ausgeht, dass der Aufenthaltsort unbekannt ist, beginnt der Lauf der Einspruchsfrist nicht. Das gleiche gilt, wenn die Einspruchsfrist entgegen § 329 Abs. 3 ZPO nicht ausdrücklich bestimmt wird.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Kann der Beklagte jedenfalls bei rechtschutzgewährender Auslegung nicht erkennen, ob das Arbeitsgericht durch Urteil oder durch Beschluss entscheiden wollte, und hat das

Arbeitsgericht statt durch Urteil durch Beschluss entschieden, so gilt der Meistbegünstigungsgrundsatz, wonach sowohl sofortige Beschwerde als auch Berufung eingelegt werden können.

2. Kommt ein Briefumschlag mit dem Versäumnisurteil zum Arbeitsgericht zurück mit dem Hinweis "Nicht behoben - unclaimed", bedeutet dies, dass der Brief bei der Post hinterlegt, jedoch vom Empfänger nicht abgeholt worden ist. In diesem Fall kann von einer wirksamen Zustellung nicht ausgegangen werden.

 

Normenkette

ZPO § § 185 ff., §§ 329, 341; ArbGG §§ 59, 11, 78 Abs. 3; ZPO § 172 Abs. 1 S. 1, § 568 S. 1; Zustellungs-VO 2022 Art. 7, 18

 

Verfahrensgang

ArbG Bielefeld (Entscheidung vom 29.06.2023; Aktenzeichen 4 Ca 1364-22)

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 29.06.2023 - 4 Ca 1364/22 - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Arbeitsgericht zurückverwiesen, auch zur Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

 

Gründe

I. Die klagende Arbeitgeberin hat unter dem 04.08.2022 Vollstreckungsgegenklage gegen die beklagte Arbeitnehmerin, die in Salzburg (Österreich) wohnt, erhoben, weil die Beklagte aus einem gerichtlichen Vergleich des Arbeitsgerichts Bielefeld weiterhin vollstreckt, obwohl die Klägerin der Auffassung ist, sie habe den Vergleich erfüllt. Inhaltlich geht es um die Frage, ob die von der Klägerin zu zahlende Abfindung steuerfrei hätte zur Auszahlung kommen müssen, weil die Beklagte in Österreich wohnt oder nicht.

In zeitlichen Zusammenhang mit dem Gütetermin übermittelte die Beklagte dem Arbeitsgericht eine Vollmacht - ausgestellt auf ihren Verlobten für die gerichtliche und außergerichtliche Vertretung.

Zum Kammertermin am 21.12.2022 erschien die Beklagte nicht, obwohl ihre Verlegungsanträge von der Kammervorsitzenden zurückgewiesen worden waren.

Es erging sodann ein Versäumnisurteil, wonach die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich für unzulässig erklärt und die Beklagte zur Herausgabe des Titels verurteilt wurde. Nach Prüfung durch die Rechtspflegerin wurde durch die Geschäftsstelle die Zustellung des Versäumnisurteils per Rückschein an die Beklagte in Österreich veranlasst. Der eingelieferte Umschlag kam am 03. Februar 2023 zum Arbeitsgericht Bielefeld zurück mit dem Hinweis und Aufkleber Zurück/Return "nicht behoben - unclaimed".

Daraufhin wurden die Klägervertreter mit gerichtlichen Schreiben vom gleichen Tage darauf hingewiesen, dass das Versäumnisurteil nicht habe zugestellt werden können und den Postvermerk mitgeteilt. Eine neue Zustellung sei nur möglich, wenn die neue Anschrift mitgeteilt werde.

Mit Schreiben vom 13.04.2023 wurden die Klägervertreter erneut gebeten eine zustellfähige Anschrift der Beklagten mitzuteilen oder mitzuteilen, ob eine öffentliche Zustellung beantragt werde.

Mit Schriftsatz vom nächsten Tag teilten die Klägervertreter mit, es werde nunmehr die öffentliche Zustellung beantragt. Nach ihrem Kenntnisstand sei die Beklagte immer noch unter der genannten Adresse in Salzburg gemeldet. Eine Zustellung sei dort gescheitert. Ein Anhaltspunkt für eine Veränderung der Meldeamtsschrift sei derzeit nicht bekannt. Bei einem durch den Lebensgefährten betriebenen Verfahren vor einem anderen Arbeitsgericht werde als Anschrift auf den Briefbogen zudem weiter die oben genannte Anschrift genannt, sodass die Voraussetzung des § 185 Abs. 1, 3 ZPO vorliegend erfüllt sein dürften.

Mit Beschluss vom 14.04.2023 ordnete die Vorsitzende die öffentliche Zustellung des Versäumnisurteils an, da die Beklagte unbekannten Aufenthalts sei. Die Voraussetzungen des § 185 ZPO seien gegeben. Zustellun...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge