Entscheidungsstichwort (Thema)

Entscheidung des Berufungsgerichts bei Verfahrensfehlern des Arbeitsgerichts. Zurückverweisung an das Arbeitsgericht als Ausnahmetatbestand. Ergänzende Auslegung eines Tarifvertrags. Mittelbare Benachteiligung gem. § 3 Abs. 2 AGG. Begrenzte gerichtliche Überprüfbarkeit von Stichtagsregelungen. Neustrukturierung des Vergütungssystems durch Einführung der S-Tabelle. Weiter Gestaltungsspielraum und Entscheidungsprärogative der Tarifvertragsparteien. Begrenzte Überprüfbarkeit tariflicher Normsetzung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren hat das Berufungsgericht grundsätzlich selbst in der Sache zu entscheiden. Die Vorschrift des § 538 Abs. 2 ZPO dient der Prozessbeschleunigung. Sie gilt auch bei schwerwiegenden Verfahrensfehlern.

2. Eine Zurückverweisung an das Arbeitsgericht kommt ausnahmsweise in Betracht, wenn ein Verfahrensfehler vorliegt, der in der Berufungsinstanz nicht korrigiert werden kann. Das ist etwa der Fall, wenn das Gericht erster Instanz eine Entscheidung getroffen hat, ohne dass - wirksam - Sachanträge gestellt worden wären.

3. Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Eine ergänzende Auslegung eines Tarifvertrags scheidet daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht. Voraussetzung für eine ergänzende Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke vorliegt oder eine Regelung nachträglich lückenhaft geworden ist. Für die Beantwortung dieser Frage ist auf den Willen der Tarifvertragsparteien abzustellen.

4. Zur Feststellung, ob eine mittelbare Benachteiligung i.S.v. § 3 Abs. 2 AGG vorliegt, sind Vergleichsgruppen zu bilden, die dem persönlichen Geltungsbereich der Differenzierungsregel entsprechend zusammengesetzt sind. Bei Tarifverträgen ist deshalb auf den gesamten Kreis der von der fraglichen Bestimmung erfassten Normunterworfenen abzustellen. Der Gesamtheit der Personen, die von der Regelung erfasst werden, ist die Gesamtheit der Personen gegenüberzustellen, die durch die Regelung benachteiligt werden. Im Vergleich dieser Gruppen ist zu prüfen, ob die Träger eines Merkmals des § 1 AGG im oben genannten Sinn besonders benachteiligt sind.

5. Stichtag dürfen die Tarifvertragsparteien in den Grenzen des Vertrauensschutzes frei aushandeln und auch autonom bestimmen, für welche Personenkreise und ab welchem Zeitpunkt es Übergangs- oder Besitzstandsregelungen geben soll. Stichtagsregelungen sind "Typisierungen in der Zeit". Obwohl jeder Stichtag unvermeidlich Härten mit sich bringt, sind solche Regelungen aus Gründen der Praktikabilität zur Abgrenzung der begünstigten Personenkreise grundsätzlich zulässig, wenn sich die Wahl des Stichtags am gegebenen Sachverhalt orientiert und demnach sachlich vertretbar ist. Im Ergebnis ist bei solchen Stichtagsregelungen lediglich eine Willkürkontrolle durchzuführen.

6. Die Einführung der S-Tabelle ist Teil eines tariflichen Gesamtkompromisses im Rahmen der Neustrukturierung des Vergütungssystems mit einer Umstellung der für die Stufenzuordnung maßgeblichen Stufenlaufzeiten. Mit § 29e TVÜ-Länder wurde dazu ein spezifisches Überleitungsrecht geschaffen.

7. Den Tarifvertragsparteien kommt als selbständigen Grundrechtsträgern aufgrund der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Wie weit dieser Spielraum reicht, hängt von den Differenzierungsmerkmalen im Einzelfall ab. Hinsichtlich der tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen liegt die Einschätzungsprärogative bei den Tarifvertragsparteien. Sie brauchen nicht die sachgerechteste oder zweckmäßigste Regelung zu finden.

8. Tarifvertragsparteien sind bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden. Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Arbeitsgerichte jedoch dazu, Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheits- und sachwidrigen Differenzierungen führen und deshalb Art. 3 Abs. 1 GG verletzen.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; ZPO § 128a Abs. 1, §§ 165, 314 S. 2, § 533 Nr. 2, § 528; ArbGG § 68; AGG §§ 1, 3 Abs. 2, § 7; TVÜ-L § 29e; TV-L § 52; EntgO TV-L EG 10 und EG S. 15

 

Verfahrensgang

ArbG Bielefeld (Entscheidung vom 09.12.2021; Aktenzeichen 1 Ca 1518/21)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 09.12.2021, 1 Ca 1518/21 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Frage, ob die Anlage G (sog. S-Tabelle) zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin anzuwenden ist.

Die Klägerin ist auf Grundlage des Arbeitsvertrages vom 03.12./17.12.2013 seit dem 07.01.2014 auf unbestimmte Zeit als vollbeschäftigte Fachkraft für Schulsozialar...

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