Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Arbeitnehmers in der Insolvenz des Arbeitgebers
Leitsatz (redaktionell)
1. Sind bei einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat namentlich bezeichnet, so wird gem. § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse i.S. von § 1 Abs. 2 KSchG bedingt ist.
2. Eine Betriebsänderung i.S. von § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG kann auch in einem reinen Personalabbau bestehen.
3. Die Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung kommt gem. § 125 Abs. 1 S. 2 InsO nicht zur Anwendung, wenn sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert hat (hier: verneint).
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Hagen (Westfalen) (Entscheidung vom 25.10.2016; Aktenzeichen 4 Ca 881/16) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 25.10.2016 - 4 Ca 881/16 - wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigung vom 27. April 2016 zum 31. Juli 2016.
Der 1961 geborene Kläger ist seit dem 06. Januar 1982 bei der Beklagten zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt ca. 2.650,00 € beschäftigt. Er ist von Geburt an - als Folge von Sauerstoffmangel - in seinen geistigen Erkenntnis- und Steuerungsmöglichkeiten eingeschränkt und aufgrund dieser Beeinträchtigungen als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50 anerkannt. Von der Beklagten wurde er mit schriftlichem Arbeitsvertrag vom 07. Januar 1982 als "Kernmacher - Anlernling" eingestellt und im Wesentlichen mit Hilfstätigkeiten in der "Kernmacherei" beschäftigt. Neben dem Kläger waren in der "Kernmacherei" noch 4 Kernmacher beschäftigt, darunter ein Betriebsratsmitglied und ein Vorarbeiter. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein - Westfalens Anwendung.
Die Beklagte betreibt eine Gießerei, in der zuletzt 73 Mitarbeiter beschäftigt waren. Sie verzeichnete seit dem Jahr 2012 erhebliche Umsatzrückgänge und Verluste. Während im Geschäftsjahr 2013 noch 915 Tonnen Fertigguss bearbeitet wurden, wurde im Jahr 2015 lediglich eine Tonnage von 596 Tonnen erreicht. Bei dieser Leistung erwirtschaftete die Beklagte einen Verlust von ca. 1 Mio. Euro. Im Rahmen der Liquiditätsplanung für den Monat Januar 2016 stellte die Beklagte fest, dass ihre liquiden Mittel nicht ausreichen würden, um sämtliche Kreditorenrechnungen sowie die Löhne und Gehälter zu zahlen. Sie stellte daher am 21. Januar 2016 einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen, verbunden mit einem Antrag auf Eigenverwaltung.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 29. März 2016, 12:04 Uhr wurde über das Vermögen der Beklagten das Insolvenzverfahren eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Am Abend des 29. März 2016 unterzeichneten die Beklagte und der bei ihr bestehende Betriebsrat kurz nach 21:00 Uhr einen Interessenausgleich nebst Namensliste, der den Abbau von 19 Mitarbeitern und dabei den Ausspruch von 17 betriebsbedingten Kündigungen vorsieht. Die Namensliste weist 17 Mitarbeiter auf, darunter den Kläger unter der laufenden Nummer 17. In § 1 Ziffer 11 des Interessenausgleichs wird hinsichtlich der Kernmacherei Folgendes ausgeführt:
"In der Kernmacherei mit bisher 5 Mitarbeitern wird es aufgrund der reduzierten Tonnage zu einer verminderten Arbeitsauslastung kommen. Aufgrund der sehr differenzierten Arbeitsabläufe werden 4 Mitarbeiter benötigt; somit reduziert sich die Anzahl der Mitarbeiter um 1."
In § 5 des Interessenausgleichs ist hinsichtlich der Mitwirkungsrechte des Betriebsrates Folgendes festgehalten:
"Bei den erforderlich werdenden Kündigungen sind die Mitwirkungsrechte des Betriebsrates gemäß §§ 95, 99, 102 BetrVG beachtet worden. Bei den Verhandlungen über den Interessenausgleich und zur Erstellung der Namensliste lagen dem Betriebsrat die Sozialdaten sämtlicher Arbeitnehmer des Betriebes vor. Mit der Erstellung der Namensliste wurde gleichzeitig das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG zur Kündigung der in der Namensliste genannten Arbeitnehmer eingeleitet. Die Erörterungen, die zur Erstellung der Namensliste geführt haben, bildeten gleichzeitig die förmliche Information des Betriebsrates über die Kündigungsgründe gem. § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG. Der Betriebsrat hatte in seiner Sitzung vom 29.03.2016 Gelegenheit, über die beabsichtigten Kündigungen zu beraten. Er gibt dazu folgende abschließende Stellungnahme ab: Die Kündigungen werden zur Kenntnis genommen. Der Betriebsrat betrachtet das Anhörungsverfahren damit als abgeschlossen.
Die Betriebsparteien sind sich darüber einig, dass auf vorstehender Grundlage dieser Interessenausg...