Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung. Schwerbehinderung. Gleichstellung

 

Leitsatz (amtlich)

Sonderkündigungsschutz nach Schwerbehindertenrecht bei zeitlich gestaffeltem Gleichstellungs- und Verschlimmerungsantrag

  1. Hat der Arbeitnehmer zeitlich weit vor Zugang der Kündigung einen Gleichstellungsantrag gestellt und den Arbeitgeber hierüber binnen eines Monats unterrichtet, bleibt der Gleichstellungsantrag jedoch unbeschieden, weil der Arbeitnehmer aufgrund eines kurz vor Zugang der Kündigung gestellten Verschlimmerungsantrags die Anerkennung als Schwerbehinderter rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung erlangt, so kann sich der Arbeitnehmer erfolgreich auf die Unwirksamkeit der ohne Zustimmung des Integrationsamtes erklärten Kündigung berufen, auch wenn er den Arbeitgeber nicht über den zusätzlichen Verschlimmerungsantrag unterrichtet hat.
  2. Soweit das Bundesarbeitsgericht im Urteil vom 12.01.2006 (2 AZR 539/05 – AP Nr. 3 zu § 85 SGB IX) in Erwägung zieht, die bislang mit einem Monat bemessene Regelfrist zur Mitteilung einer bestehenden oder beantragten Schwerbehinderung bei Untätigkeit des Gesetzgebers an die dreiwöchige Klagefrist des § 4 KSchG anzugleichen, sind gegen eine solche (erneute) Rechtsfortbildung Bedenken zu erheben.
 

Normenkette

KSchG § 1; SGB IX §§ 85, 90 Abs. 2a

 

Verfahrensgang

ArbG Rheine (Urteil vom 24.08.2006; Aktenzeichen 2 Ca 702/06)

 

Nachgehend

BAG (Rücknahme vom 21.08.2008; Aktenzeichen 2 AZR 522/07)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Rheine vom 24.08.2006 – 2 Ca 702/06 – abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 07.04.2006 nicht beendet worden ist.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision gegen das Urteil wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer ordentlichen arbeitgeberseitigen Kündigung vom 07.04.2006, welche die Beklagte auf den Gesichtspunkt häufiger krankheitsbedingter Fehlzeiten sowie eine fehlende gesundheitliche Eignung des Klägers stützt. Diesem Vortrag tritt der Kläger in der Sache entgegen und macht im Übrigen geltend, die Wirksamkeit der Kündigung scheitere bereits an der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes. Hierzu verweist er auf die Tatsache, dass er im Zuge des Rechtsstreits rückwirkend zum 27.03.2006 als Schwerbehinderter mit einem GdB von 50 anerkannt worden ist. Einen entsprechenden Verschlimmerungsantrag hatte der Kläger unter dem genannten Datum beim Versorgungsamt gestellt. Nachdem das Versorgungsamt mit Bescheid vom 06.06.2006 den Antrag zunächst abschlägig beschieden hatte, wurde auf den Widerspruch des Klägers vom 27.06.2006 dem Anerkennungsbegehren des Klägers entsprochen.

Bereits weiträumig zuvor – offenbar noch im Jahre 2005 – hatte der Kläger ferner unter Hinweis auf die zunächst mit einem GdB von 40 festgestellte Behinderung einen Gleichstellungsantrag gestellt und hiervon die Beklagte bereits im damaligen Zeitpunkt unterrichtet. Mit Bescheid vom 08.03.2006 lehnte die Agentur für Arbeit den Gleichstellungsantrag des Klägers ab, wogegen der Kläger unter dem 30.03.2006 Widerspruch erhob. In seiner gegen die Kündigung gerichteten Klageschrift vom 26.04.2006, der Beklagten zugestellt am 04.05.2006 – wies der Kläger die Beklagte auf das diesbezügliche Widerspruchsverfahren, nicht hingegen auf seinen Verschlimmerungsantrag hin. Über den Widerspruch des Klägers hinsichtlich des Gleichstellungsantrages ist eine behördliche Entscheidung in der Folgezeit nicht getroffen worden, nachdem der Kläger seine Anerkennung als Schwerbehinderter erlangt hat.

Der Kläger ist der Auffassung, unter den vorliegenden Umständen habe die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung die Zustimmung des Integrationsamtes einholen müssen. Zum einen sei seine Schwerbehinderung ohnehin als offenkundig anzusehen. Zum anderen sei der Beklagten unstreitig aus einem früheren Antragsverfahren beim Integrationsamt die Tatsache bekannt gewesen, dass der Kläger darum bemüht sei, wegen seiner Behinderung den gesetzlichen Sonderkündigungsschutz zu erlangen. Demgegenüber macht die Beklagte geltend, für sie sei die Schwerbehinderung des Klägers nicht erkennbar gewesen, im Gegenteil habe sich in dem früheren Zustimmungsverfahren beim Integrationsamt herausgestellt, dass beim Kläger keine Sehbehinderung, sondern allein eine Sehschwäche vorliege, weswegen sie – die Beklagte – seinerzeit ihren Zustimmungsantrag beim Integrationsamt zurückgenommen und den Kläger auf einen der Sehschwäche angepassten Arbeitsplatz versetzt habe. Vorsichtshalber habe sie sogar vor Ausspruch der angegriffenen Kündigung bei der örtlichen Fürsorgestelle Rückfrage wegen einer etwaigen Schwerbehinderung des Klägers gehalten und hierauf die wohl unzutreffende Auskunft erhalten, dass im Falle des Klägers kein Sonderkündigungsschutz nach dem SGB IX zu beachten sei. Nachdem der Kläger in der Klageschrift allein auf seinen Gleichstellungsantrag, nicht hingegen auf seinen Verschlimmerung...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge