Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung der Rechtsmittelfrist. Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen zu Teilschritten einer Betriebsstilllegung. Betriebliche Übung als Anspruchsgrundlage im Arbeitsrecht

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Rechtsmittelführer, der vor Ablauf der Rechtsmittelfrist Prozesskostenhilfe beantragt hat, ist bis zur Entscheidung über diesen Antrag als ohne sein Verschulden an der Einlegung des Rechtsmittels verhindert anzusehen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. Ihm ist nach der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe regelmäßig wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

2. Sieht der Arbeitgeber oder Insolvenzverwalter eine Stilllegung des Betriebs in mehreren Etappen vor, muss er zwar einen Personalabbau durchführen, jedoch mit dem reduzierten Personalstamm den verbleibenden Betrieb bis zur Stilllegung fortführen. In diesem Fall obliegt ihm jedenfalls mit Ausnahme des letzten Schritts der Stilllegung die Pflicht zur Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 KSchG.

3. Nach ständiger Rechtsprechung entsteht eine betriebliche Übung durch ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers, das den Inhalt der Arbeitsverhältnisse gestaltet und geeignet ist, vertragliche Ansprüche auf eine Leistung zu begründen, wenn und soweit der Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers schließen durfte, ihm werde eine entsprechende Leistung auch zukünftig gewährt. Dieses Verhalten ist als Vertragsangebot zu werten, das von den Arbeitnehmern stillschweigend angenommen werden kann, wobei der Zugang der Annahmeerklärung nach § 151 BGB entbehrlich ist.

 

Normenkette

ZPO § 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2; InsO §§ 113, 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; KSchG § 1 Abs. 3; BetrVG § 102; BGB § 151

 

Verfahrensgang

ArbG Dortmund (Entscheidung vom 09.12.2020; Aktenzeichen 10 Ca 2590/20)

 

Tenor

  1. Dem Beklagten wird wegen Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 09.12.2020 - 10 Ca 2590/20 - Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt.
  2. Die Berufungen der Klägerin und des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 09.12.2020 - 10 Ca 2590/20 - werden zurückgewiesen.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigung, einen Weiterbeschäftigungsanspruch sowie um diverse Zahlungsansprüche.

Die am 31. Mai 1961 geborene und verheiratete Klägerin ist seit dem 28. Juli 1980 bei der A Profile GmbH (nachfolgend: "Insolvenzschuldnerin") als Bürokauffrau beschäftigt. Ihre durchschnittliche monatliche Bruttovergütung belief sich zuletzt auf 5.232,75 €. Im schriftlichen Arbeitsvertrag vom 06. August 1982 ist u. a. folgendes bestimmt:

"2. Grundlagen des Dienstverhältnisses

(1) Die Mitarbeiterin ist Tarif-Angestellte.

(2) Für das Dienstverhältnis gelten die tariflichen Bestimmungen, die Arbeitsordnung der Gesellschaft, die sonstigen betrieblichen Regelungen und ergänzend die allgemeinen gesetzlichen Vorschriften in der jeweils gültigen Fassung, soweit in diesem Vertrag nichts anderes vereinbart ist. ..."

Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin sind die Herstellung und der Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen. Die Produktion gliedert sich dabei im Wesentlichen in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und das sogenannte Technikum (Sondertechnik).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 01. März 2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin, bei der ca. 400 Arbeitnehmer beschäftigt waren, das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Bis zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung war die Insolvenzschuldnerin Mitglied im Arbeitgeberverband, welcher Tarifverträge im Bereich der Metall und Elektroindustrie NRW abgeschlossen hat und wandte die entsprechenden Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis an. Durch die Insolvenzeröffnung schied die Insolvenzschuldnerin nach der Satzung des Arbeitgeberverbands aus diesem aus. Mit Wirkung zum 01.03.2020 schlossen die IG Metall Nordrhein-Westfalen und der hiesige Beklagten einen Haustarifvertrag ab (nachfolgend: "Haustarifvertrag"). Unter III. Nr. 1 vereinbarten die Tarifvertragsparteien folgendes:

"III. Sonderregelung

1. Der einheitliche Tarifvertrag über die tarifliche Absicherung des Teils eines 13. Monatseinkommens (ETV 13. ME) vom 18.12.2003 für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen findet keine Anwendung. Die A Profile GmbH gewährt ihren Arbeitnehmern kein 13. Einkommen."

Am 27. März 2020 schloss der Beklagte mit dem bei der Insolvenzschuldnerin gebildeten Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 Arbeitsverhältnissen vorsah. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin war von die...

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