Entscheidungsstichwort (Thema)

Entgeltausfallprinzip bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Auslegung tarifvertraglicher Bestimmungen nach dem Wortlaut. Systematische Auslegung tarifvertraglicher Regelungen. Zulassung der Revision wegen besonderer Bedeutung der Rechtsfrage

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Grundsätzlich erhält das in § 4 Absatz 1 EFZG verankerte Entgeltausfallprinzip dem Arbeitnehmer die volle Vergütung einschließlich etwaiger Zuschläge. Es kann jedoch gemäß § 4 Absatz 4 Satz 1 EFZG eine von den Absätzen 1, 1a und 3 des § 4 EFZG abweichende Bemessungsgrundlage durch Tarifvertrag festgelegt werden.

2. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen.

3. In den Fällen, in denen sich Tarifvertragsparteien eines Rechtsbegriffs bedienen, der im juristischen Sprachgebrauch eine bestimmte Bedeutung hat, ist dieser Begriff in seiner allgemeinen juristischen Bedeutung auszulegen, sofern sich nicht aus dem Tarifvertrag etwas anderes ergibt.

4. Dass die Tarifvertragsparteien ausdrücklich das Urlaubsgeld und die Weihnachtszuwendung von der Entgeltfortzahlung ausgeschlossen haben, verdeutlicht gerade, dass die Tarifvertragsparteien zuvor keineswegs nur die Grundvergütung eingeschlossen hatten, sondern der Hinweis auf die tarifliche Vergütung umfassend zu verstehen ist.

5. Ist eine allgemeinverbindliche Regelung eines landesweit anwendbaren Tarifvertrages auszulegen, kann das Gericht eine allgemeine Bedeutung der Rechtsfrage annehmen und die Revision zum Bundesarbeitsgericht zulassen.

 

Normenkette

EFZG §§ 3, 4 Abs. 4 S. 1; ArbGG § 72 Abs. 2 Nr. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Bonn (Entscheidung vom 10.08.2022; Aktenzeichen 2 Ca 747/22)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 10.08.2022 - 2 Ca 747/22 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
  3. Die Revision wird zugelassen
 

Tatbestand

Die Parteien streiten im bestehenden Arbeitsverhältnis um die Auslegung einer tarifvertraglichen Regelung. Dabei haben die Parteien unterschiedliche Ansichten zur Frage der Berechnung der korrekten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle.

Der Kläger ist seit dem 01.05.2012 als Werkschutzfachkraft bei der Beklagten, einem Wach- und Sicherheitsunternehmen, beschäftigt. Bei einem Stundengrundlohn in Höhe von derzeit 17,64 Euro brutto erzielt er eine monatliche Vergütung in Höhe von etwa 4.000 Euro brutto.

Für die Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr erhält der Kläger eine Nachtschichtzulage in Höhe von 10 % des Stundengrundlohns der Lohngruppe 7, mithin 1,44 Euro brutto je Stunde. Für Sonntagsarbeit erhält er in der Zeit zwischen 00:00 Uhr und 24 Uhr einen Zuschlag in Höhe von 50 % seines Stundengrundlohns, mithin 8,82 Euro brutto je Stunde. Zudem bezieht er von der Beklagten für Schichten, in denen er als Schichtführer eingeteilt worden ist, eine Schichtführerzulage in Höhe von 2,12 Euro brutto je Stunde.

Der Tarifvertrag zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen vom 13.11.1997 (im Folgenden: TV Entgeltfortzahlung) enthält unter §§ 2, 3 nachfolgende Regelung:

"§ 2 Höhe und Berechnung

Der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall regelt sich nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz in der jeweils gültigen Fassung mit folgenden Abweichungen:

1. Höhe

Die Höhe der Entgeltfortzahlung beträgt:

vom 1. - 14. Tag der Arbeitsunfähigkeit 80 %

vom 15. Tag der Arbeitsunfähigkeit 100 %

2. Berechnungsgrundlage

Das fortzuzahlende Entgelt des Arbeitnehmers berechnet sich auf der Grundlage des Einkommens des Arbeitnehmers in den letzten drei voll abgerechneten Kalendermonaten ohne Einmalbezüge und Aufwandsentschädigungen, geteilt durch die Anzahl der Kalendertage der letzten drei voll abgerechneten Kalendermonate, multipliziert mit der Anzahl der Kalendertage der Arbeitsunfähigkeit.

Stehen als Referenzzeitraum nicht drei voll abgerechnete Kalendermonate zur Verfügung, gelten als Referenzzeitraum die tatsächlich abgerechneten vollen Kalendermonate. Steht als Referenzzeitraum kein voller abgerechneter Kalendermonat zur Verfügung, gilt das Lohnausfallprinzip.

§ 3 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab 1.Mai 1999

Ab dem 01.Mai 1999 wird ab dem 1. Tag der Arbeitsunfähigkeit ein Entgelt in Höhe von 100 % der tariflichen Vergütung des Arbeitnehmers gezahlt (1).

Die 100 % berechnen sich nach der Lohngruppe des Arbeitnehmers, in die er eingruppiert ist.

Es gilt das Lohnausfallprinzip. Leistungen nach Ziffer 3.3.1 und 3.3.2 des Manteltarifvertrag...

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