Entscheidungsstichwort (Thema)

Benachteiligungsvermutung wegen Nichteinladung eines schwerbehinderten Menschen zum Vorstellungsgespräch. Keine Pflicht zum Vorstellungsgespräch bei offensichtlicher Nichteignung des Bewerbers. Offensichtliche Ungeeignetheit für die ausgeschriebene Stelle. Nachweis von Qualifikationsanforderungen zum Zeitpunkt des Vorstellungsgesprächs. Geltung des Prinzips der Bestenauslese auch für schwerbehinderte Menschen

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Feststellung der offensichtlich fehlenden fachlichen Eignung eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 165 SGB IX ist es unerheblich, dass in der Zukunft möglicherweise mit einem qualifizierenden Ausbildungsabschluss gerechnet werden kann. Spätestens im Zeitpunkt des Vorstellungsgesprächs muss der fragliche Ausbildungsabschluss vorliegen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Verstoß eines öffentlichen Arbeitsgebers gegen seine Pflicht aus § 165 S. 3 SGB IX, einen sich bewerbenden schwerbehinderten Menschen zum Vorstellungsgespräch einzuladen, begründet regelmäßig eine Vermutung der Benachteiligung wegen der Behinderung.

2. Ein Verstoß gegen § 3 AGG liegt nicht vor, wenn bereits die Bewerbungsunterlagen die offensichtlich fehlende fachliche Eignung des Bewerbers erkennen lassen und der öffentliche Arbeitgeber daher nach § 165 S. 4 SGB IX von seiner Pflicht zur Einladung des Bewerbers zum Vorstellungsgespräch befreit ist.

3. "Offensichtlich" fachlich ungeeignet ist, wer unzweifelhaft nicht dem in der veröffentlichten Stellenausschreibung enthaltenen Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle entspricht. Ob ein Bewerber offensichtlich fachlich ungeeignet ist, ist anhand eines Vergleichs zwischen dem Anforderungsprofil und dem fachlichen Leistungsprofil des Bewerbers zu ermitteln.

4. Fehlen einer sich bewerbenden Person die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen, verschafft ihr auch das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG keinen Anspruch darauf, von bestimmten Qualifikationsmerkmalen befreit zu werden. Denn dem verfassungsrechtlich garantierten Prinzip der Auslese nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung aus Art. 33 Abs. 2 GG sind auch die durch das Benachteiligungsverbot geschützten Personengruppen unterworfen.

 

Normenkette

AGG §§ 15, 1; SGB IX § 165; GG Art. 33 Abs. 2; AGG §§ 3, 7 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Köln (Entscheidung vom 22.02.2022; Aktenzeichen 16 Ca 5028/21)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 22.02.2022 - 16 Ca 5028/21 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
  3. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über eine Entschädigung wegen Diskriminierung bei der Einstellung und dabei insbesondere über die offensichtlich fehlende Eignung der Klägerin für die ausgeschriebene Stelle. Die Klägerin ist examinierte Krankenschwester und ist als Ausbildern im Fachbereich kaufmännische Ausbildung tätig. Hierzu verfügt sie seit dem Jahre 2003 über eine Ausbildereignung. Die Beklagte ist eine obere Bundesbehörde. Sie schrieb eine "zum nächstmöglichen Zeitpunkt" zu besetzende Stelle für "eine Sachbearbeiterin/einen Sachbearbeiter (w/m/d) (E 11 TVöD)" aus. Darin forderte sie unter "Ihr Profil" u.a. die "Laufbahnbefähigung für den gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst des Bundes oder ein vergleichbares abgeschlossenes Hochschulstudium (Diplom (FH)/Bachelor) im verwaltungs-, wirtschafts- oder gesundheitswissenschaftlichen Bereich" (vgl. Stellenausschreibung, Bl. 6 ff. d. A.). Auf diese Stelle bewarb sich die mit einem GdB von 50 schwerbehinderte Klägerin mit Schreiben vom 30.03.2021. Ohne die Klägerin zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu haben, erteilte die Beklagte ihr mit E-Mail vom 11.05.2021 eine Absage. Die Klägerin machte mit anwaltlichem Schreiben vom 25.06.2021 einen Entschädigungsanspruch erfolglos geltend und verfolgt ihn mit ihrer am 20.09.2021 bei Gericht eingegangenen Klage weiter.

Die Klägerin meint, die Beklagte habe sie wegen ihrer Behinderung diskriminiert. Dies werde durch die fehlende Einladung zu einem Vorstellungsgespräch indiziert. Die Einladung sei nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil die Klägerin für die ausgeschriebene Stelle offensichtlich ungeeignet gewesen sei. Sie verfüge zwar nicht über die geforderte Laufbahnbefähigung und habe auch kein vergleichbares Hochschulstudium absolviert. Sie nehme aber derzeit an einer Weiterbildung bei der DeLSt zur Fachwirtin im Gesundheits- und Sozialwesen teil, die sie im Jahre 2022 abschließen werde. Dieser Abschluss sei gemäß DQR (Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen) mit Stand vom 31.03.2014 dem Leistungsniveau 6 zuzuordnen und stehe damit der von der Beklagten vorgegebenen Qualifikation gleich.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie eine angemessene Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die aber mindestens 13.799,04 € betragen soll.

Die Beklagte hat beantragt,

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