Entscheidungsstichwort (Thema)
Diskriminierung schwerbehinderter Mensch
Leitsatz (amtlich)
Eine Verletzung des § 82 S. 2 SGB IX begründet die Vermutung, dass eine Benachteiligung im Bewerbungsverfahren wegen der Schwerbehinderung erfolgt ist (BAG 21.07.2009 – 9 AZR 431/08). Das kann, wenn ein schwerbehinderter Mensch nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird, einen Entschädigungsanspruch aus § 16 Abs. 2 S. 1 und 2 AGG auslösen, selbst wenn der Bewerber auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
Die Vermutung des § 22 AGG ist aber widerleglich. Sie kann widerlegt sein, wenn ein öffentlicher Arbeitgeber bei 126 Bewerbern um eine Fahrerstelle, von denen 14 schwerbehindert sind, 8 Bewerber, darunter die 2 bestqualifizierten Schwerbehinderten, zu einem Fahrtest einlädt und das Vorgehen sowie die Auswahl der eingeladenen Schwerbehinderten im Einvernehmen mit der Vertrauensperson der Schwerbehinderten trifft.
Normenkette
SGB IX § 82 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Köln (Urteil vom 20.07.2011; Aktenzeichen 3 Ca 3655/10) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 20.07.2011 – 3 Ca 3655/10 – abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Entschädigungsansprüche aus § 81 Abs. 2 S. 1 und 2, § 82 S. 2 und 3 SGB IX i. V. m. §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 S. 1, 6 Abs. 1 S. 2, 15 Abs. 2, 22 AGG. Konkret geht es darum, ob dem Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 S. 1 und 2 AGG zusteht. Der Kläger macht nicht geltend, dass er bei benachteiligungsfreier Auswahl eingestellt worden wäre. Die Entschädigung wird wegen der Nichteinladung zu einem Fahrtest im Zusammenhang mit der Bewerbung um eine Fahrerstelle gefordert.
Der zur Zeit der Bewerbung 44jährige, seinerzeit arbeitslose und mit einem Grad von 60 anerkannt schwerbehinderte Kläger lebte zur Zeit der Bewerbung in B. Er hatte ausweislich seines Bewerbungsschreibens während des Grundwehrdienstes Kontakt mit speziell ausgebauten Lkw aus der Mess- und Nachrichtentechnik. Er hatte 1989/1990 ausweislich des Lebenslaufes als Berufskraftfahrer und 1990/1991 als Fahrschullehrer gearbeitet. In den Jahren von 1992 – 1996 war er als Vorarbeiter und bauleitender Monteur tätig, hat im Jahr 1996 eine Meisterschule besucht, in den Jahren 1997 – 1999 einen Auslandsaufenthalt absolviert, als Projektmeister/Obermonteur gearbeitet und als Servicemeister für Aufzüge. In den Jahren von Mitte 1999 bis Ende 2006 war er bei S B, einem Eigenbetrieb der Stadtgemeinde B beschäftigt. Ausweislich des dazu eingereichten Zeugnisses war er zunächst als Haushandwerker und Kraftwagenfahrer eingestellt worden, waren ihm aber aufgrund seiner hervorragenden Arbeitsleistungen im Laufe des Arbeitsverhältnisses immer umfangreichere Aufgaben im Bereich der allgemeinen Haustechnik übertragen worden. In der Zeit danach bis Ende 2008 arbeitete der Kläger ausweislich seines Lebenslaufs als „Bürosachbearbeiter/Fahrer” bei einem Taxen-Unternehmen in B.
Der Kläger verfügt über die Führerscheinklassen A, B, CE sowie über einen Personenbeförderungsschein. Er ist Fahrschullehrer und verfügt über einen Meisterbrief im Elektroinstallationshandwerk.
Die Beklagte veröffentlichte vertreten durch das B für V im Jahre 2009 eine Stellenanzeige, in der sie für ein befristetes Arbeitsverhältnis einen Kraftfahrer/in suchte und dazu folgende Angaben machte (Bl. 6 d.A.):
Anforderungsprofil
- Führen von qualifizierten Fahrzeugen, die besondere Anforderungen an spurgenaues Fahren stellen (überschwere Fahrzeuge, Messfahrzeuge)
- Sonstige Fahrertätigkeit (PKW mit Personenbeförderung)
- Kleinere Reparaturen, Wartung und Pflege
Arbeitgeber-Leistungen
Die Eingruppierung für Tarifbeschäftigte erfolgt unter Berücksichtigung der persönlichen Voraussetzungen in Entgeltgruppe 5 TVöD.
Tätigkeitsprofil
- Ausbildung als Berufskraftfahrer/in oder Berufserfahrung als Fahrer/in
- Fahrerlaubnis der Klasse CE oder Führerschein der Klasse B
- Gute Auffassungsgabe, Zuverlässigkeit
- Arbeitssorgfalt und Genauigkeit
- Möglichst Personenbeförderungsschein
- PC- und Englischgrundkenntnisse sind von Vorteil
Der Kläger bewarb sich mit Schreiben vom 22. Juli 2009. Wegen des Inhalts des Bewerbungsschreibens und der beigefügten Anlagen wird auf Bl. 8 ff. d. A. Bezug genommen. Im Bewerbungsschreiben verwies der Kläger auf eine vorhandene Schwerbehinderung mit einem GdB von 60.
Auf die Stelle bewarben sich insgesamt 126 Personen, davon waren 14 schwerbehindert. Die Beklagte lud nach einer Vorauswahl aufgrund der Bewerbungsunterlagen insgesamt 8 Bewerber zu einem Fahrtest/Vorstellungsgespräch ein. In Abstimmung mit der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen traf sie die Auswahl und lud – ebenfalls in Abstimmung mit der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen – nur die beiden als bestgeeignet angesehenen schwerbehinderten Menschen zu d...