Entscheidungsstichwort (Thema)
Dreistufiges Prüfungsschema bei der krankheitsbedingten Kündigung. Häufige Fehlzeiten als Grundlage einer negativen Zukunftsprognose. Keine Berücksichtigung unfallbedingter Ausfallzeiten bei der Zukunftsprognose
Leitsatz (amtlich)
Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund eines Unfalls sind für die Frage der negativen Zukunftsprognose grundsätzlich nicht relevant, da sie regelmäßig nicht prognosefähig sind.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Überprüfung einer krankheitsbedingten Kündigung hat in drei Stufen zu erfolgen. Zunächst bedarf es einer negativen Prognose hinsichtlich des weiteren Gesundheitszustands des zu kündigenden Arbeitnehmers. Im Anschluss daran ist zu prüfen, ob die entstandenen und prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Abschließend wird nach Maßgabe einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung geprüft, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinnehmbaren betrieblichen und/oder wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen.
2. Die als unstreitig feststehenden Fehlzeiten einer Partei, ihre jeweilige Dauer und ihre Ursachen sind in erster Linie die für die Rechtfertigung der Besorgnis über künftige Erkrankungen maßgebenden Anhaltspunkte. Ihre Bewertung, ob sie ausreichen, die Annahme künftiger erheblicher Fehlzeiten zu rechtfertigen, ist in erster Linie Sache des Tatrichters, dem hierfür im Rahmen der §§ 144, 286 ZPO ein Ermessensspielraum zusteht.
Normenkette
KSchG §§ 1, 23; ZPO §§ 138, 144, 286
Verfahrensgang
ArbG Aachen (Entscheidung vom 28.07.2022; Aktenzeichen 1 Ca 303/22) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 28.07.2022 - 1 Ca 303/22 - wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um eine ordentliche Kündigung der Beklagten wegen häufiger Kurzerkrankungen.
Die am 1967 geborene, geschiedene, nicht schwerbehinderte Klägerin ist seit dem 01.11.2015 bei der Beklagten, die ausschließlich der Auszubildenden mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt, als Lagermitarbeiterin tätig. Ihre zuletzt bezogene Vergütung belief sich nach ihren Angaben auf 2.252,93 Euro brutto pro Monat.
Ab dem 01.01.2019 erkrankte die Klägerin bis zum 04.02.2022 wie folgt:
2019: 130 Tage
21.02.
22.02.
07.03.
08.03. - 15.03.
29.03.
01.04. - 18.04.
03.05.
09.05.
10.05.
13.05.
14.05. - 20.09.
17.10.
21.11.
22.11. - 06.12.
2020: 60 Tage
13.02. - 21.02.
10.03.
14.04. - 26.06.
18.11.
19.11.
2021: 164 Tage
04.01. - 05.01.
29.01. - 01.02.
08.02. - 19.02.
04.03. - 05.03.
26.04. - 28.04.
18.05.
26.05. - 27.05.
01.06.
02.06. - 11.06.
22.06. - 23.06.
06.07. - 31.12.
2022 (bis 04.02.2022): 21 Tage
01.01. - 04.02.2022.
Entgeltfortzahlung leistete die Beklagte im Jahr 2019 an 69 Tagen, im Jahr 2020 an 38 Tagen und im Jahr 2021 an 56 Tagen. Im Jahr 2022 fielen bis zum 04.02.2022 keine Entgeltfortzahlungskosten an.
Die Klägerin erlitt in dieser Zeit am 14.05.2019 sowie am 14.04.2020 - nicht beruflich veranlasste - Unfälle.
Die Parteien führten 2 Verfahren zum betrieblichen Eingliederungsmanagement durch, welche am 11.10.2019 sowie am 03.06.2020 abgeschlossen wurden. Mit Schreiben vom 25.08.2021 wurde der Klägerin ein weiteres BEM-Verfahren angeboten. Dieses nahm sie jedoch nicht an.
Mit Datum vom 03.01.2022 fertigten die behandelnden Ärzte der Klägerin einen Plan zur stufenweisen Wiedereingliederung, nach dem die Klägerin in der Zeit vom 10.01.2022 bis zum 21.01.2022 täglich 4 Stunden und in der Zeit vom 24.01.2022 bis zum 04.02.2022 täglich 6 Stunden arbeiten sollte. Die Beklagte erklärte hierzu ausdrücklich ihr Einverständnis. Entsprechend wurde die Klägerin ab dem 10.01.2022 eingesetzt.
Unter dem 11.01.2022 hörte die Beklagte den im Betrieb gewählten Betriebsrat zur beabsichtigten ordentlichen, krankheitsbedingten Kündigung an. Der Betriebsrat widersprach mit undatiertem Schreiben und verwies auf einen entsprechenden Beschluss vom 18.01.2022.
Mit Schreiben vom 27.01.2022, welches der Klägerin am selben Tage zuging, kündigte die Beklagte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.03.2022.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, dass diese Kündigung sozial nicht gerechtfertigt sei, da es bereits an einer negativen Zukunftsprognose fehle.
Die Erkrankungen vom 08.03.2019 bis 15.03.2019, vom 01.04.2019 bis 19.04.2019 sowie am 10.05.2019 seien zurückzuführen auf klimakterische Störungen. Die Klägerin hat behauptet, diese seien ausgeheilt. Die unmittelbaren Folgen aus dem Unfall vom 14.05.2019 - Meniskusriss links, Fraktur des Tibiaschaftes links sowie eine Verstauchung und Zerrung des linken Knies - hätten ab dem 22.09.2019 nicht mehr zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt. Sie hat behauptet, dass sich durch die Schädigung des linken Knies eine Entzündung der linken Achillessehne entwickelt habe, die in der Zeit vom 21.11.2019 bis zum 04.12.2019 zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt habe, die...