Entscheidungsstichwort (Thema)
Beurteilungsspielraum der Betriebsparteien bei Auslegung tariflicher Regelungen. Eigenkündigung zur Vermeidung einer Arbeitgeberkündigung. Betriebsverfassungsrechtliche Zulässigkeit von Stichtagsregelungen für Sozialplanabfindungen. Weiter Spielraum bei der Aufstellung von Sozialplänen
Leitsatz (amtlich)
Ebenso wie andere Normgeber haben Betriebsparteien einen Beurteilungsspielraum und eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der tatsächlichen Voraussetzungen und Folgen der von ihnen gesetzten Regeln.
Diese umfassen auch die typisierende Beurteilung, dass Arbeitnehmer, die ihr Arbeitsverhältnis zu einem früheren Zeitpunkt, als durch die Betriebsänderung geboten, selbst kündigen, ohne hierzu vom Arbeitgeber veranlasst zu sein, durch die Betriebsänderung keine oder sehr viel geringere wirtschaftliche Nachteile erleiden, als diejenigen, die den mit dem Arbeitsverhältnis verbundenen Besitzstand nicht freiwillig aufgeben, sondern eine Kündigung des Arbeitgebers abwarten.
Eine Veranlassung des Arbeitnehmers zu einer Eigenkündigung durch den Arbeitgeber liegt nur vor, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer im Hinblick auf eine konkret geplante Betriebsänderung bestimmt, selbst zu kündigen oder einen Aufhebungsvertrag zu schließen, um so eine sonst notwendig werdende Arbeitgeberkündigung zu vermeiden.
Stichtagsregelungen, die häufig mit Härten verbunden sind, müssen sich am jeweiligen Sachverhalt orientieren. Betriebsparteien können zur Herstellung von Rechtssicherheit einen Stichtag bestimmen und auf diese Weise festlegen, ob eine Eigenkündigung durch die konkrete Betriebsänderung veranlasst wurde oder nicht. Dazu kann die Ausgleichspflicht an einen Zeitpunkt anknüpfen, in dem die Art und Weise der durchzuführenden Betriebsänderung für die betroffenen Arbeitnehmer feststeht.
Stichtagsregelungen, die sich auf Eigenkündigungen beziehen, können sachlich gerechtfertigt sein, wenn in ihnen auf den Zeitpunkt des Abschlusses oder des endgültigen Scheiterns der Verhandlungen über den Interessenausgleich oder auch - wenn besondere Umstände dazu kommen - des Abschlusses des Sozialplans Bezug genommen wird.
Normenkette
GG Art. 33; BetrVG § 75 Abs. 1, § 112; KSchG §§ 9-10
Verfahrensgang
ArbG Rostock (Entscheidung vom 13.02.2019; Aktenzeichen 4 Ca 1631/17) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Rostock vom 13.02.2019 zum Aktenzeichen 4 Ca 1631/17 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Höhe einer Sozialplanabfindung.
Die Beklagte führt ein Unternehmen der Pharma-Branche mit circa 770 Vollzeitstellen im Sommer 2017.
Die im Dezember 1967 geborene, verheiratete Klägerin war ab dem 01.07.2005 bei der Beklagten als Key-Account-Managerin im Außendienst in der Abteilung "Pain" (Schmerzmittel) zuletzt mit einem Grundgehalt von 5.046,00 € brutto nebst 13. Monatsgehalt und Provisionen beschäftigt. Zuständig für die Gebiete Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg erbrachte sie ihre Tätigkeit ausgehend vom Homeoffice an ihrem Wohnsitz in Ostseebad A-Stadt.
Mit Schreiben vom 21.03.2017 (Bl. 231 ff. d. A.) informierte die Beklagte den Wirtschaftsausschuss, den Betriebsrat sowie die Schwerbehindertenvertretung über geplante Restrukturierungsmaßnahmen, insbesondere auch über die Notwendigkeit, den Außendienst bereits zum 01.10.2017 an das künftig zur Verfügung stehende Produktportfolio anzupassen. Die Klägerin wurde hierüber per Telefonkonferenz unterrichtet.
Nachdem feststand, dass Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan nicht ohne Einschaltung einer Einigungsstelle zum Ergebnis führen können, trafen die Beklagte und der Betriebsrat unter dem 13.06.2017 eine Verfahrensvereinbarung (Bl. 296 ff. d. A.) zur Festlegung eines Zeitplanes für das weitere Beteiligungsverfahren. Die erste Sitzung der Einigungsstelle fand am 03.08.2017 statt. Am 28.09.2017 wurden Interessenausgleich (Bl. 245 ff. d. A.), Sozialplan (Bl. 41 ff. d. A.) sowie eine Betriebsvereinbarung "Auswahlrichtlinie" (Bl. 299 ff. d. A.) geschlossen. Letztere verweist unter II. 4. auf seine Anlage 2 zum Verfahren der Stellenbesetzung im Außendienst. Unter III. sind Sonderregelungen für den Außendienst vorgesehen, insbesondere zur Vergleichsgruppenbildung und zum Verfahren der Sozialauswahl.
Im Sozialplan und Transfersozialplan heißt es auszugsweise:
"I.
Geltungsbereich
Dieser Sozialplan gilt für alle Arbeitnehmer, die von den im Interessenausgleich vom heutigen Tag geregelten Betriebsänderungen betroffen sind und am 1. August 2017 in einem ungekündigten und unbefristeten Arbeitsverhältnis stehen, soweit sich aus diesem Sozialplan nicht ausdrücklich Abweichendes ergibt. Er gilt nicht für Leitende Angestellte im Sinne von § 5 Abs. 3 BetrVG, Auszubildende, Praktikanten, Trainees und Werkstudenten sowie Mitarbeiter im dualen Studiengang.
...
IV.
Abfindungen
1. Anspruchsberechtigte
Unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis in Umset...