Entscheidungsstichwort (Thema)
Interessenausgleich mit Namensliste. Massenentlassungsanzeige. Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz
Leitsatz (redaktionell)
Nach § 17 KSchG ist für die Massenentlassungsanzeige an die Kündigung anzuknüpfen und nicht an die tatsächliche Entlassung. Hat der Arbeitgeber nicht nur verspätet sondern überhaupt keine Massenentlassungsanzeige erstattet, ist die Sperre des § 18 KSchG nicht überwunden und die Kündigungen sind unwirksam.
Orientierungssatz
1. Parallelsache zum Urteil vom 01.11.2005 (5 Sa 50/05), das vollständig dokumentiert ist.
2. Das Urteil ist der unterlegenen Partei am 15.03.2006 zugestellt worden. Die Revision ist zugelassen worden.
Normenkette
KSchG §§ 17-18, 1 Abs. 5
Verfahrensgang
ArbG Rostock (Aktenzeichen 4 Ca 2159/04) |
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung wird das arbeitsgerichtliche Urteil abgeändert.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 30.08.2004 nicht aufgelöst worden ist.
3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung und um Probleme der vorgenommenen Massenentlassung.
Der 1979 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit August 1995 als Einschaler zu einem Monatseinkommen von zuletzt rund EUR 1.800 brutto beschäftigt.
Die Beklagte ist ein Bauunternehmen mit insgesamt mehr als 100 aber weniger als 200 Arbeitnehmern. Die Hauptverwaltung ist in S. angesiedelt und es gibt Betriebsstätten in S. und R., die von der Beklagten als Niederlassungen bezeichnet werden.
Der Kläger ist der Betriebsstätte R. zugeordnet. In seinem Arbeitsvertrag heißt es insoweit (vgl. Blatt 57 d.A.):
- „Der Arbeitsort des Arbeitnehmers sind die Baustellen der Niederlassung R..
- Er ist jedoch auch verpflichtet, nach näherer Anweisung, auf Baustellen anderer Niederlassungen zu arbeiten.”
Für das Gesamtunternehmen ist ein Betriebsrat gewählt worden von den Arbeitnehmern an beiden Standorten.
Der Kläger und die anderen gewerblichen Mitarbeiter aus R. haben teilweise selbstständig und teilweise auch gemeinsam mit Kollegen aus S. die Aufträge der Beklagten abgearbeitet. Teilweise sind die Aufträge auch in Kooperation mit Mitarbeitern zweier Tochtergesellschaften der Beklagten abgearbeitet worden.
In Rostock gab es etwa 25 gewerbliche Mitarbeiter und mehrere Bauleiter, Ingenieure und kaufmännische Mitarbeiter, die die Aufträge akquirierten (teilweise streitig), die Baustellen koordinierten und die Abrechnungen vornahmen. Die Personalbuchhaltung erfolgte zentral in S.. Welche Personalbefugnisse der Niederlassungsleiter in R. hatte, ist zum Teil streitig geblieben. Insgesamt waren vor der Entlassungswelle am Standort R. etwa 50 Arbeitnehmer beschäftigt.
Die Niederlassung R. hatte zum Schluss nicht mehr kostendeckend gearbeitet; außerdem konnten nicht genügend Aufträge akquiriert werden. Vor diesem Hintergrund hat sich die Unternehmensleitung Mitte August 2004 entschlossen, sämtliches gewerbliches Personal in R. zu entlassen und zukünftig die entsprechenden Leistungen allein noch über Nachunternehmer einzukaufen.
Unter dem 18.08.2004 wurde der Betriebsrat über die Absicht unterrichtet, die Arbeitsverhältnisse sämtlicher gewerblicher Arbeitnehmer in R. (mit Ausnahme der dort beschäftigten Betriebsratsmitglieder) zu kündigen. Wegen der Einzelheiten wird auf das in Kopie zur Gerichtsakte gelangte drei Seiten umfassende Dokument Bezug genommen (Blatt 41 ff d.A.). Danach sollten insgesamt 22 gewerbliche Arbeitnehmer, unter anderem dem Kläger, und eine nicht genau bestimmte Anzahl von Angestellten, gekündigt werden.
Der Betriebsrat hat der Kündigung unter dem 26.08.2004 mit dem Argument widersprochen, im Rahmen der Sozialauswahl hätten auch die gewerblichen Mitarbeiter am Standort in S. einbezogen werden müssen.
Am 30.08.2004 ist es schließlich zum Abschluss eines Interessenausgleiches und eines Sozialplans gekommen; auf die überreichten Kopien der beiden Dokumente wird Bezug genommen. Der Sozialplan sieht Abfindungen in Höhe von EUR 100,00 pro Jahr der Betriebszugehörigkeit für die gekündigten Arbeitnehmer vor. Der Interessenausgleich mit der gesondert unterzeichneten Namensliste lag in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht in einem parallelen Rechtsstreit im Original vor und wurde vom Gericht in Augenschein genommen. Die Namensliste umfasst 25 Mitarbeiter der Niederlassung R., unter anderem den des Klägers.
Die Beklagte hat sodann mindestens gegenüber 23 der auf der Liste aufgeführten Arbeitnehmer unter dem 30.08.2004 eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung ausgesprochen. Dem Kläger ist die Kündigung wie den meisten anderen Arbeitnehmern am 31.08.2004 zugegangen. Die Kündigung erfolgte beim Kläger zum 30.09.2004.
Ein gesondertes Konsultationsverfahren nach § 17 KSchG hat die Beklagte ebenso wenig durchgeführt wie eine Anzeige der beabsichtigten Entlassung...