Entscheidungsstichwort (Thema)
Personenbedingte Kündigung wegen Entzugs der Fahrerlaubnis. Ultima Ratio-Prinzip im Kündigungsrecht. Soziale Rechtfertigung einer personenbedingten Kündigung. Unterrichtung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG. Betriebliches Eingliederungsmanagement i.S.d. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX
Leitsatz (amtlich)
Ist das Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr die hauptsächliche Arbeitsaufgabe, kann die Entziehung der Fahrerlaubnis eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen, sofern eine Wiedererlangung der Fahrerlaubnis zeitlich nicht absehbar und eine anderweitige Beschäftigung auf Dauer nicht möglich ist.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Verlust einer Fahrerlaubnis bei einem Kraftfahrer kann einen personenbedingten Grund zur Kündigung darstellen. Ohne den Führerschein darf der Arbeitgeber den Arbeitnehmer im Straßenverkehr nicht weiter einsetzen. Der Arbeitnehmer kann seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung als Kraftfahrer nicht mehr erbringen.
2. Eine personenbedingte Kündigung ist unverhältnismäßig, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist, sie also durch mildere Mittel abgewendet werden kann. Mildere Mittel können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen Arbeitsplatz sein.
3. Ist eine Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen nicht möglich, dauert die Zeit des Entzugs der Fahrerlaubnis bereits mehr als ein Jahr und ist nicht absehbar, ob der Arbeitnehmer in der Lage ist, die Fahrerlaubnis wiederzuerlangen, ist eine personenbedingte Kündigung gerechtfertigt.
4. Der Inhalt der Betriebsratsunterrichtung ist nach ihrem Sinn und Zweck grundsätzlich subjektiv determiniert. Der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat die Umstände mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss tatsächlich bestimmt haben.
5. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement dient der Klärung, wie eine Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Für die fehlende Fahrerlaubnis des schwerbehinderten Menschen ist das betriebliche Eingliederungsmanagement irrelevant.
Normenkette
KSchG § 1; BetrVG § 102 Abs. 1; SGB IX §§ 168, 178 Abs. 2, § 167 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Stralsund (Entscheidung vom 05.04.2022; Aktenzeichen 1 Ca 217/21) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 05.04.2022 - 3 Ca 217/21 - abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen personenbedingten Kündigung eines Busfahrers wegen des Verlustes der Fahrerlaubnis.
Der im Jahr 1967 geborene Kläger nahm am 01.09.1984 bei einer Rechtsvorgängerin der Beklagten eine Ausbildung zum Kfz-Elektromechaniker auf und arbeitete bei ihr im Anschluss daran einige Jahre in diesem Beruf. Mit dem zum 01.10.1991 geschlossenen Änderungsvertrag vom 04.10.1991 vereinbarten die Parteien sodann eine Tätigkeit als KOM [Kraftomnibus] - Fahrer, für die sich der Kläger umschulen ließ.
Die Beklagte betreibt in ihrem Zuständigkeitsgebiet den öffentlichen Personennahverkehr und beschäftigt rund 300 Mitarbeiter, von denen etwa 260 als Busfahrer/innen eingesetzt sind. Sie unterhält drei Werkstätten, die sich an verschiedenen Standorten befinden und in denen insgesamt 22 - 24 Beschäftigte tätig sind, davon drei Meister. In den Werkstätten führt die Beklagte sämtliche Wartungsarbeiten und Reparaturen mit Ausnahme größerer Unfallreparaturen durch.
Der Kläger ist seit längerem alkoholkrank. Im Jahr 2011 unterzog er sich einer mehrwöchigen qualifizierten Entgiftungsbehandlung in einer Klinik.
Von Ende Mai 2015 bis März 2017 war der Kläger durchgängig arbeitsunfähig. Während dieses Zeitraums unterzog sich der Kläger im Jahr 2016 nochmals einer qualifizierten Entgiftungsbehandlung in einer Klinik. Im Jahr 2016 wurde ihm überdies die Fahrerlaubnis entzogen. Mit Schreiben vom 27.09.2017 sprach die Beklagte aufgrund der erheblichen Fehlzeiten des Klägers eine Kündigung aus. Nachdem sie von seiner Alkoholerkrankung erfahren hatte, erklärte sie, aus dieser Kündigung keine Rechte mehr herzuleiten.
Vom 11.01.2018 bis 22.03.2018 unterzog sich der Kläger im F-P-R in R einer Entwöhnungstherapie. Mit Bescheid vom 12.07.2018 wurde der Kläger, bei dem ein Grad der Behinderung von 30 vorliegt, einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Im Kalenderjahr 2018 war der Kläger insgesamt 26 Wochen arbeitsunfähig.
In dem gerichtlichen Vergleich vom 23.07.2019 (LAG Mecklenburg-Vorpommern, Aktenzeichen 2 Sa 9/19) vereinbarten die Parteien eine vorübergehende Beschäftigung des Klägers in der Werkstatt, bis alle Voraussetzungen für den Einsatz als KOM-Fahrer, insbesondere der "KOM-Schein", wieder vorliegen, längstens jedoch bis zum 31.10...