Entscheidungsstichwort (Thema)
Massenentlassungsanzeige bei Kündigungsausspruch. Vertrauensschutz
Leitsatz (amtlich)
1. Der Begriff der Entlassung in § 17 KSchG meint die Kündigung des Arbeitsverhältnisses und nicht den Zeitpunkt, zu dem die Kündigungserklärung das Arbeitsverhältnis beendet. Das ergibt sich aus der europarechtskonformen Auslegung der Vorschrift.
2. Wird eine anzeigepflichtige Entlassung nicht angezeigt, kann die Entlassungssperre aus § 18 KSchG nicht überwunden werden. Die dennoch ausgesprochene Kündigung ist als unwirksam zu behandeln (wie BAG Urteil vom 16.06.2005 – 6 AZR 451/04 – AP Nr. 21 zu § 17 KSchG 1969).
3. Der Arbeitgeber, der vor der Entscheidung des EuGH vom 27.01.2005 (NJW 2005, 1099) eine Massenentlassung ohne Anzeige durchgeführt hat, die nach der neuen Praxis der Bundesagentur als anzeigepflichtig einzustufen wäre, kann sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, wenn er nicht wenigstens versucht hat, die Entlassungswelle noch nachträglich anzuzeigen.
Orientierungssatz
Das Urteil ist der unterlegenen Partei am 08.12.2005 zugestellt worden. Die Revision ist zugelassen worden.
Normenkette
KSchG § 17
Verfahrensgang
ArbG Rostock (Urteil vom 30.08.2004; Aktenzeichen 2 Ca 2337/04) |
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichtes abgeändert und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 30.08.2004 nicht aufgelöst ist.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung und um Probleme der vorgenommenen Massenentlassung.
Der 1958 geborene Kläger, verheiratet und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtet, ist bei der Beklagten seit März 1995 als Maurer zu einem Stundenlohn von zuletzt 10,96 EUR brutto beschäftigt.
Die Beklagte ist ein Bauunternehmen mit insgesamt mehr als 100 aber weniger als 200 Arbeitnehmern. Die Hauptverwaltung ist in S. angesiedelt und es gibt Betriebsstätten in S. und R., die von der Beklagten als Niederlassungen bezeichnet werden.
Der Kläger ist der Betriebsstätte R. zugeordnet. In seinem Arbeitsvertrag heißt es insoweit:
„Der Arbeitsort des Arbeitnehmers ist R..” |
Für das Gesamtunternehmen ist ein Betriebsrat gewählt worden von den Arbeitnehmern an beiden Standorten.
Der Kläger und die anderen gewerblichen Mitarbeiter aus R. haben teilweise selbstständig und teilweise auch gemeinsam mit Kollegen aus S. die Aufträge der Beklagten abgearbeitet. Teilweise sind die Aufträge auch in Kooperation mit Mitarbeitern der … GmbH und der … GmbH, beides Tochtergesellschaften der Beklagten, abgearbeitet worden.
In R. gab es etwa 25 gewerbliche Mitarbeiter und mehrere Ingenieure und kaufmännische Mitarbeiter, die die Aufträge aquirierten, die Baustellen koordinierten und die Abrechnungen vornahmen. Die Personalbuchhaltung erfolgte zentral in S.. Welche Personalbetugnisse der Niederlassungsleiter in R. hatte, ist zum Teil streitig geblieben. Insgesamt waren vor der Entlassungswelle am Standort in R. etwa 50 Arbeitnehmer beschäftigt.
Die Niederlassung R. hatte zum Schluss nicht mehr kostendeckend gearbeitet; außerdem konnten nicht genügend Aufträge aquiriert werden. Vor diesem Hintergrund hat sich die Unternehmensleitung Mitte August 2004 entschlossen, sämtliches gewerbliches Personal in R. zu entlassen und zukünftig die entsprechenden Leistungen allein noch über Nachunternehmer einzukaufen.
Unter dem 18.08.2004 wurde der Betriebsrat über die Absicht unterrichtet, die Arbeitsverhältnisse sämtlicher gewerblicher Arbeitnehmer in R. (mit Ausnahme der dort beschäftigten Betriebsratsmitglieder) zu kündigen. Wegen der Einzelheiten wird auf das in Kopie zur Gerichtsakte gelangte dreiseitige Dokument Bezug genommen (Blatt 28 ff). Danach sollten insgesamt 23 Arbeitnehmer, unter anderem den Kläger, gekündigt werden.
Der Betriebsrat hat der Kündigung unter dem 26.08.2004 mit dem Argument widersprochen, im Rahmen der Sozialauswahl hätten auch die gewerblichen Mitarbeiter am Standort in S. einbezogen werden müssen.
Am 30.08.2004 ist es schließlich zum Abschluss eines Interessenausgleiches und eines Sozialplans gekommen; auf die überreichten Kopien der beiden Dokumente wird Bezug genommen. Der Sozialplan sieht Abfindungen in Höhe von 100,00 EUR pro Jahr der Betriebszugehörigkeit für die gekündigten Arbeitnehmer vor. Der Interessenausgleich mit der gesondert unterzeichneten Namensliste lag in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht im Original vor und wurde vom Gericht und den Parteien in Augenschein genommen. Die Namensliste umfasst 25 gewerbliche Mitarbeiter der Niederlassung R., unter anderem den Kläger.
Die Beklagte hat sodann mindestens gegenüber 23 der auf der Liste aufgeführten Arbeitnehmern unter dem 30.08.2004 eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung ausgesprochen. Dem Kläger ist die Kündigung wie den meisten anderen Arbeitneh...