Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifübliche Vergütung. Ermittlung des Wirtschaftsgebiets bei ortsgebunden tätigen Betrieben. Räumlicher Geltungsbereich eines Flächentarifvertrags. Sittenwidriges und wucherähnliches Rechtsgeschäft. Subjektives Moment des Lohnwuchers
Leitsatz (amtlich)
1. Von der Üblichkeit der Tarifvergütung kann ohne weiteres ausgegangen werden, wenn mehr als 50 % der Arbeitgeber eines Wirtschaftsgebiets tarifgebunden sind oder wenn die organisierten Arbeitgeber mehr als 50 % der Arbeitnehmer eines Wirtschaftsgebiets beschäftigen.
2. Wirtschaftsgebiet ist bei ortsgebunden tätigen Unternehmen regelmäßig der räumliche Bereich, in dem die Betriebsstätte liegt und aus dem der wesentliche Teil des Personals stammt.
3. Der räumliche Geltungsbereich eines Flächentarifvertrages kann über ein bestimmtes Wirtschaftsgebiet hinausgehen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach § 138 Abs. 1 BGB sind Geschäfte nichtig, bei denen Leistung und Gegenleistung in einem auffälligen Missverhältnis zueinander stehen und weitere sittenwidrige Umstände wie z.B. eine verwerfliche Gesinnung des durch den Vertrag objektiv Begünstigten hinzutreten.
2. In subjektiver Hinsicht verlangt der Tatbestand des Lohnwuchers eine Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen. Eine Ausbeutung des Arbeitnehmers durch Lohnwucher liegt vor, wenn der Arbeitgeber sich die Schwäche des Arbeitnehmers bewusst durch übermäßig niedrige Vergütung zunutze macht.
Normenkette
BGB §§ 138, 612 Abs. 2; VerdStatG § 3; VO (EG) 1893/2006 Anhang I
Verfahrensgang
ArbG Stralsund (Entscheidung vom 17.11.2021; Aktenzeichen 11 Ca 38/21) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund (Kammern Neubrandenburg) vom 17.11.2021 - 11 Ca 38/21 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Sittenwidrigkeit des Lohns einer Packerin in einer Brauerei.
Die Klägerin nahm bei der Beklagten am 10.12.2007 eine Beschäftigung als Mitarbeiterin Verpackung/Getränkeabfüllung auf. Die Beklagte betreibt eine Brauerei und stellt verschiedene alkoholische und nichtalkoholische Getränke her, die in Glas- oder PET-Flaschen bzw. Dosen abgefüllt werden. Aufgabe der Klägerin ist es vor allem, die Getränke je nach Kundenwunsch auf Paletten unterschiedlicher Größe zu stapeln, die Palette in Folie einzuwickeln und für den Abtransport bereitzustellen.
Im Herbst 2020 kam es bei der nicht tarifgebundenen Beklagten zu Streiks, um eine tarifliche Entlohnung zu erreichen. Die Klägerin, die Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist, erhielt zu dieser Zeit einen Stundenlohn von € 10,10 brutto zuzüglich einer Zulage von € 0,25 je Stunde, die die Beklagte ab einer Beschäftigungszeit von zehn Jahren gewährt. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit der Klägerin beträgt 40 Stunden. Mit dem Novembergehalt 2020 zahlte die Beklagte ihr ein Weihnachtsgeld in Höhe von € 859,61 brutto. Für die geleistete Nachtarbeit erhielt die Klägerin Zuschläge in Höhe von 25 %. Der Mindestlohn belief sich im Jahr 2020 auf € 9,35 je Zeitstunde. Die Streiks blieben erfolglos und führten nicht zum Abschluss eines Tarifvertrages. Im Mai 2021 wurde eine betriebliche Entgeltordnung mit leistungsbezogenen Vergütungsbestandteilen eingeführt.
Nach dem Entgelttarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Brauereien von H., M-V und S.-H., gültig ab 01.01.2019, abgeschlossen zwischen der Tarifgemeinschaft der Brauereien von H./S.-H. und der Tarifgemeinschaft der Brauereien von M-V, vertreten durch den B. N. e. V. (im Folgenden: XXX B. N.), beläuft sich das monatliche Gehalt in der Bewertungsgruppe II auf € 3.166,07 brutto. Der Geltungsbereich dieses Tarifvertrages ist wie folgt festgelegt:
"...
Fachlich: |
Für die Brauereibetriebe, brauereieigenen Niederlagen sowie die den Brauereien als Nebenbetriebe oder als selbständige Betriebsabteilungen angegliederten Mälzereien, die dem oben bezeichneten Verband als Mitglieder angeschlossen sind. |
..."
Wegen der Bewertungsgruppen nimmt der XXX B. N. Bezug auf den Einheitlichen Rahmentarifvertrag für die Brauwirtschaft im Tarifgebiet H., S.-H., M-V vom 16.01.2017, abgeschlossen zwischen der Tarifgemeinschaft der Brauereien in H., S.-H., M-V, vertreten durch den B. N. e. V., einerseits und der NGG andererseits, gültig ab 01.01.2016. Dort sind die Gruppenmerkmale der Bewertungsgruppe II wie folgt festgelegt:
"...
Ausführen von einfachen, mechanischen oder schematischen Tätigkeiten, die teilweise eine Einarbeitungszeit erfordern können. Diese Tätigkeiten erfordern keine Berufsausbildung oder entsprechende Anlernzeit.
..."
Mit Schreiben vom 28.01.2021 forderte die Klägerin von der Beklagten die Zahlung eines weiteren monatlichen Betrages von jeweils € 1.418,77 brutto für den Zeitraum Oktober bis einschließlich Dezember 2020. Zur Begründung berief sie sich auf die Sittenwidrigkeit ihres Stundenlohns angesichts der im Wir...