Entscheidungsstichwort (Thema)
Schutzbereich der Koalitionsfreiheit und -betätigung durch Art. 9 Abs. 3 GG. Verdrängung der kollektiven Ordnung durch tarifwidrige Betriebsvereinbarungen. Tarifpluralität und ihre Lösung in § 4a Abs. 2 TVG
Leitsatz (redaktionell)
1. Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen. Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Das betrifft insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen, in denen das Arbeitsentgelt und andere materielle Arbeitsbedingungen wie etwa die Arbeitszeit geregelt sind.
2. Von einem Eingriff in die Tarifautonomie ist auszugehen, wenn eine Tarifnorm als kollektive Ordnung verdrängt und damit ihrer zentralen Funktion beraubt werden soll. Das setzt eine betriebliche Regelung voraus, die einheitlich wirken und an die Stelle der bisher normativ wirkenden Tarifnorm treten soll.
3. Nach § 4a Abs. 2 TVG gilt bei Bestehen mehrerer Tarifverträge zu denselben Regelungsgegenständen, dass im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar sind, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen korrigierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat.
Normenkette
BGB §§ 823, 1004; GG Art. 9 Abs. 3; BetrVG § 23 Abs. 3, § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1 S. 1; ArbGG § 2a Abs. 1 Nr. 1; TVG § 4a; ArbGG § 83; BU-RA-ZugTV AGV MOVE § 3 Abschn. II Abs. 4 S. 1
Verfahrensgang
ArbG München (Entscheidung vom 21.07.2020; Aktenzeichen 25 BV 408/19) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Beschwerde der Beteiligten zu 1 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts München vom 21.07.2020, Az. 25 BV 408/19 wird zurückgewiesen.
2. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
A.
Die Beteiligten streiten im Wesentlichen darüber, ob die Beteiligte zu 1) einen Unterlassungsanspruch auf Durchführung der zwischen den Beteiligten zu 2) und 3) geschlossenen Betriebsvereinbarung "Schicht- und Einsatzplanung" vom 20.08.2019, hilfsweise von einzelnen Regelungen der Betriebsvereinbarung hilfsweise von einzelnen Regelungen der Betriebsvereinbarung gegenüber den Mitgliedern der Beteiligten zu 1) hat.
Die Antragstellerin und Beteiligte zu 1) ist eine im Betrieb der Beteiligten zu 2) vertretene Gewerkschaft. Der Beteiligte zu 3) ist der im Betrieb der Beteiligten zu 2) gewählte Betriebsrat. Die Beteiligte zu 2) ist Mitglied des tarifvertragsschließenden Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister e.V. (AGV MOVE).
Im Betrieb der Beteiligten zu 2) herrscht Tarifpluralität. Die Tarifwerke, welche zwischen der Beteiligten zu 1) und zu 2) sowie zwischen den Beteiligten zu 2) und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) geschlossen wurden, regeln, dass diese Tarifwerke in den Betrieben der Beteiligten zu 2) nebeneinander existieren. Die Tarifvertragsparteien verzichteten einvernehmlich auf die Anwendung des § 4 a TVG. Im Hinblick auf die Beteiligte zu 1) ist dies im Tarifvertrag zur Regelung von Grundsatzfragen (TV Grundsatzfragen) vom 30. Juni 2015 (Anl. AG 15., Bl 357 ff d.A.) geregelt, im Hinblick auf die EVG im Tarifvertrag zur Sicherung kollisionsfreier Tarifbestimmungen (TV Kollisionsfreiheit) vom 27. Mai 2015. Der TV Grundsatzfragen ist zum 31.12.2020 ausgelaufen, er hat weder Nachwirkung noch gibt es einen Nachfolgetarifvertrag.
Für die Beteiligte zu 2) besteht eine Tarifbindung, insbesondere für folgende zwischen der Beteiligten zu 1) und dem AGV MOVE abgeschlossenen Tarifverträgen:
- Bundes-Rahmentarifvertrag für das Zugpersonal der Schienenbahnen des Personen- und Güterverkehrs in der Bundesrepublik Deutschland (BuRa-ZugTV AGV MOVE) (Anlage A 1, Bl. 28 ff d.A.)
- Tarifvertrag für Lokomotivführer von Schienenverkehrsunternehmen des AGV MOVE (LfTV) (auszugsweise Anlage A 2, Bl. 65 ff d.A.)
- Tarifvertrag für Zugbegleiter und Bordgastronomie von Schienenverkehrsunternehmen des AGV MOVE (ZubTV) (auszugsweise Anlage A 3, Bl. 68 ff d.A.)
- Tarifvertrag für Lokrangierer von Schienenverkehrsunternehmen des AGV MOVE (LrfTV) (auszugsweise Anlage A 4, Bl. 70 ff d.A.).
Im Tarifwerk des Beteiligten zu 1) heißt es in § 3 Abschnitt II Abs. 4 Satz 1 BuRa-ZugTV:
"Die Ruhetage sollen in Abständen von höchstens 144 Stunden beginnend mit der ersten Schicht nach dem vorausgehenden Ruhetag) gewährt werden. Ruhetage mit einer Ruhezeit von 36 Stunden sollen nicht mehr als zweimal hintereinander angesetzt werden. Die Betriebsparteien können im gegenseitigen Einvernehmen hiervon abweichen."
§ 3 Abschnitt III BuRa-ZugTV regelt die Dienst- und Schichtplanung für Lokomotivführer (einschließlich Lokrangierführer), Zugbegleiter und Bordgastronomen. In § 3 Abschnitt III Absatz 1 ist die Jahresplanung, in Absatz 2 die Monatsplanung und in Absatz 3 die Wochenplanung geregelt. § 3 Abschnitt III BuRa-Zug-TV la...