rechtskräftig
Leitsatz (amtlich)
1. § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG begründet (auch) einen eigenständigen Anspruch auf (tatsächliche) Weiterbeschäftigung.
2. Dieser Anspruch ist nur von den (formellen) Tatbestandsvoraussetzungen des § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG abhängig.
3. Der Widerspruch des Betriebsrats gegen eine ordentliche Kündigung ist schon dann ausreichend begründet und insofern ordnungsgemäß im Sinne von § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG, wenn dieser Widerspruch es als möglich erscheinen läßt, daß einer der in § 102 Abs. 3 BetrVG abschließend genannten Widerspruchsgründe geltend gemacht wird.
4. Der Ausschluß des gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG begründeten Weiterbeschäftigungsanspruchs ist nur im Wege der Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG möglich.
5. Eine einstweilige Verfügung zur Durchsetzung des Weiterbeschäftigungsanspruchs gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG ist eine Befriedigungsverfügung und setzt einen entsprechenden Verfügungsgrund voraus, für den die allgemeinen Grundsätze gelten.
6. Einen Rechtssatz des Inhalts, daß ein Verfügungsgrund für eine Befriedigungsverfügung zur Durchsetzung des Weiterbeschäftigungsanspruchs gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG in der Regel gegeben ist, gibt es nicht. Ob ein solcher Verfügungsgrund tatsächlich regelmäßig gegeben ist, kann auf sich beruhen, weil eine solche Regel die Prüfung des Verfügungsgrundes in jedem Einzelfall nicht erübrigen würde.
Verfahrensgang
ArbG München (Urteil vom 11.11.1993; Aktenzeichen 9 Ga 271/93) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 11.11.1993 – 9 Ga 271/93 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im einstweiligen Verfügungsverfahren über den Anspruch der Klägerin auf Weiterbeschäftigung gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG.
Die Klägerin war nach Maßgabe des Arbeitsvertrags vom 24.06.1986 seit dem 07.07.1986 im Werk München der Beklagten als – angelernte – Schaltmechanikerin beschäftigt.
Die Beklagte hat im Werk München Massenentlassungen geplant und vorgenommen und deswegen mit dem Betriebsrat einen Sozialplan vereinbart. Unter anderem hat die Beklagte alle 10 angelernten Schaltmechaniker/innen entlassen und deren Funktionen in das Werk Memmingen verlagert.
Gemäß Schreiben vom 15.09.1993 hörte die Beklagte den Betriebsrat wegen einer betriebsbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin an. Der Betriebsrat und die Beklagte vereinbarten die Verlängerung der Anhörungsfrist für den Betriebsrat bis zum 27.09.1993. An diesem Tage ging bei der Beklagten das Widerspruchsschreiben des Betriebsrats vom selben Tage ein, das unter anderem folgenden Wortlaut hat:
„Lt. Beschluß vom 27.09.93 widerspricht der Betriebsrat der betriebsbedingten Kündigung von Frau …
Begründung:
1. Bei der Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmerin hat die … soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt.
Frau … ist 38 Jahre alt und seit 7 Jahren im Betrieb, zur Zeit als Schaltmechanikerin beschäftigt.
Bei einer fehlerfreien sozialen Auswahl müssen Arbeitnehmer/innen mit vergleichbarer Aus- und Weiterbildung, Qualifikation und Hierarchie in den Auswahlkreis einbezogen werden. Bei der Tätigkeit von Frau … handelt es sich um eine Facharbeitertätigkeit. Beim Vergleichskreis Schaltmechaniker/innen (A) wurden Facharbeiter und Angelernte bezüglich der Aus- und Weiterbildung und der Qualifikation auf eine Stufe gestellt. Eine soziale Auswahl quer über den ganzen Betrieb hat nicht stattgefunden. Der von Ihnen genannte Auswahlkreis umfaßt nur 10 Mitarbeiter/innen.
Da dem Betriebsrat – trotz mehrfacher Aufforderung – die gesamten Auswahlkreise nicht vorgelegt wurden, fehlen für die ordnungsgemäße Anhörung unerläßliche Informationen.
2. Bei den sozialen Gesichtspunkten wurden von Ihnen Punkte ermittelt. Offensichtlich haben Sie dabei andere maßgebliche Erwägungen übersehen: Frau … ist geschieden und muß für die beiden bei ihr lebenden 8 und 17 Jahre alten Kinder aufkommen. Für die in der Türkei lebenden Vater und Bruder leistet sie monatlich ca. DM 300,– an Unterhaltszahlungen.
Eine Kündigung würde für Frau … und ihre beiden Kinder eine unerträgliche soziale Härte darstellen und die Existenz in Frage stellen.
3. Frau … ist bereit eine andere Arbeit im Haus anzunehmen, z. B. eine Bürotätigkeit als Teamassistentin. Sie ist bereit, an notwendigen Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen.”
Trotz dieses Widerspruchs kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 30.09.1993 zum 31.10.1993 aus betriebsbedingten Gründen.
Gegen diese Kündigung hat die Klägerin gemäß § 4 Satz 1 KSchG Kündigungsschutzklage erhoben, die am 12.10.1993 beim Arbeitsgericht München eingegangen ist, dort unter der Prozeßregisternummer 31 Ca 15610/93 geführt wird und am 23.3.1994 zur Streitverhandlung ansteht. Mit Anwaltsschreiben vom 19.10.1993 hat die Klägerin von der Beklagten die Weiterbeschäftigung gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG verlangt. Die Beklagte ist diesem Verlangen jedoch...