Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Verfügung auf Weiterbeschäftigung. Einstweilige (Befriedigungs-)Verfügung gemäß § 940 ZPO auf Weiterbeschäftigung gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG. Anforderungen an den Verfügungsanspruch und den Verfügungsgrund. Selbstwiderlegung des Bestehens eines Verfügungsgründes durch längere Untätigkeit des Verfügungsklägers. Verfügungsantrag auf Weiterbeschäftigung erst ca. sechs Monate nach Ausspruch der Kündigung unter Freistellung von der Arbeitsleistung und kurz vor Ablauf der Kündigungsfrist
Leitsatz (redaktionell)
1. Entscheidend für die Zulässigkeit einer Befriedigungsverfügung ist – auch in den Fällen der Gefahr eines endgültigen Rechtsverlusts – eine am rechtsstaatlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes für beide Parteien und an dem daraus folgenden „Gebot der Ausgewogenheit des einstweiligen Rechtsschutzes” ausgerichtete prozessrechtliche Interessenabwägung mit dem Ergebnis, dass das Interesse des Gläubigers an dem Erlass der Befriedigungsverfügung das gegenteilige Interesse des Schuldners überwiegt. Dabei kommt es mit Rücksicht auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes in erster Linie auf den voraussichtlichen Ausgang des Hauptsacheverfahrens an. Deswegen kann insbesondere in den Fällen der Gefahr eines endgültigen Rechtsverlusts eine Befriedigungsverfügung – in der Regel – ohne Prüfung des Verfügungsanspruchs weder erlassen noch verweigert werden.
2. Diese allgemeinen Grundsätze gelten uneingeschränkt auch für die Zulässigkeit einer Befriedigungsverfügung zur Durchsetzung eines auf § 102 Abs. 5 BetrVG gestützten Weiterbeschäftigungsanspruchs. Ist dieser Weiterbeschäftigungsanspruch zweifelsfrei gegeben und kommt deswegen auch im Hauptsacheverfahren keine andere Entscheidung über den Weiterbeschäftigungsanspruch in Betracht, so ist mit Rücksicht auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes auch der für den Erlass einer Weiterbeschäftigungsverfügung gem. § 940 ZPO erforderliche Verfügungsgrund gegeben, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls diesen Verfügungsgrund ausschließen.
3. Verzichtet der Arbeitnehmer auf jeglichen Rechtsschutz gegen eine sechseinhalb Monate dauernde Freistellung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist, so hat er damit – wegen der inhaltlichen Übereinstimmung von Beschäftigungs- und Weiterbeschäftigungsanspruch – i.d.R. auch die Dringlichkeit einer Weiterbeschäftigungsverfügung für die Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist selbst widerlegt.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 5 S. 1; ZPO § 940
Verfahrensgang
ArbG München (Urteil vom 14.07.2003; Aktenzeichen 22 Ga 411/03) |
Tenor
Die Berufung der Verfügungsklägerin gegen dasUrteil desArbeitsgerichts München vom14.07.2003 – 22 Ga 411/03 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im einstweiligen Verfügungsverfahren über den Anspruch der Klägerin auf Weiterbeschäftigung und insbesondere über die so genannte Selbstwiderlegung der Dringlichkeit einer Weiterbeschäftigungsverfügung.
Die Beklagte ist ein Elektrotechnikunternehmen, das in München vier Betriebe unterhält. In dem Betrieb M. H.straße (Mch H) sind zurzeit (noch) etwa 5.600 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich Information and Communicaton Networks (ICN) und etwa 1.700 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich Information and Communication Mobile (ICM) beschäftigt.
Wegen eines erheblichen Auftrags- und Umsatzrückgangs beschloss der ICN-Bereichsvorstand im Juli bzw. September 2002, die Personalkapazität an den Bedarf anzupassen und das so genannte Carrier-Geschäft (mit Telefonanlagen und -systemen für Telefongesellschaften im Festnetzbereich) neu zu organisieren.
Diesbezüglich vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat Mch H den Interessenausgleich ‚Kapazitätsanpassung ICN München H 2002 und Neuausrichtung des ICN-Carrier-Geschäfts” vom 23.10.2002. Gemäß Nr. 3.1 dieses Interessenausgleichs wurde mit Wirkung vom 01.11.2002 die „neue ICN Carrier-Organisation eingeführt” und gemäß Nr. 4.3 sollten 1.100 Arbeitnehmer „– so weit möglich” einvernehmlich „ausscheiden” und dementsprechend „höchstens 1.100 betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen” werden.
Auf der Grundlage dieses Interessenausgleichs kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 15.01.2003 im Geschäftsbereich ICN „gegen den Widerspruch des Betriebsrats” insgesamt 154 Arbeitnehmern, die sie alle „ab sofort” unter Fortzahlung der Vergütung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung bis zum Ablauf der jeweiligen Kündigungsfrist freistellte.
Die am 09.02.1951 geborene Klägerin ist gelernte Bürokauffrau und seit 05.07.1984 bei der Beklagten beschäftigt. Zuletzt war die Klägerin in der Organisationseinheit ICN WN bzw. CN im Betrieb Mch H als Sekretärin/Teamassistentin tätig.
Der Klägerin wurde – gegen den Widerspruch des Betriebsrats – mit Schreiben vom 15.01.2003 zum 31.07.2003 gekündigt und die sofortige Freistellung erklärt.
Dagegen hat die Klägerin zunächst nur die Kündigungsschutzklage vom 23.01.2003 – 21 Ca 1479/03 – erhoben und erst im Wege der Klageerweiterung vom 12.06.2003 unter Berufung...