Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Weiterbeschäftigung. Befriedigungsverfügung. Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Vorwegnahme der Entscheidung im Hauptsacheverfahren. Gebot der Ausgewogenheit des einstweiligen Rechtsschutzes
Leitsatz (amtlich)
1. Der Arbeitnehmer hat (auch) gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG Anspruch auf Weiterbeschäftigung auf seinem bisherigen Arbeitsplatz, solange der Arbeitgeber die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers und damit auch seine Beschäftigungspflicht nicht wirksam anderweitig bestimmt.
2. Der Weiterbeschäftigungsanspruch gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG stimmt inhaltlich mit dem allgemeinen Beschäftigungsanspruch überein und kann daher ebenso wie dieser ausnahmsweise ausgeschlossen sein.
3. Für die Zulässigkeit einer Weiterbeschäftigungsverfügung zur Durchsetzung des Weiterbeschäftigungsanspruchs gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG gelten gemäß § 940 ZPO die allgemeinen Grundsätze.
4. Eine Weiterbeschäftigungsverfügung kann gemäß § 940 ZPO – mit Rücksicht auf das Gebot der Effektivität und der Ausgewogenheit des einstweiligen Rechtsschutzes und insbesondere mit Rücksicht auf die Gefahr eines endgültigen Rechtsverlustes – grundsätzlich weder erlassen noch verweigert werden, ohne den Verfügungsanspruch zu prüfen.
5. Ist der Weiterbeschäftigungsanspruch zweifelsfrei gegeben, so ist mit Rücksicht auf das Gebot der Effektivität des einstweiligen Rechtsschutzes auch der für den Erlass einer Weiterbeschäftigungsverfügung gemäß § 940 ZPO erforderliche Verfügungsgrund gegeben, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls diesen Verfügungsgrund ausschließen.
6. Der für eine Weiterbeschäftigungsverfügung gemäß § 940 ZPO erforderliche Verfügungsgrund kann auch dann fehlen, wenn der Weiterbeschäftigungsanspruch zwar glaubhaft gemacht, die Anerkennung des Weiterbeschäftigungsanspruchs im Hauptsacheverfahren aber nicht zweifelsfrei und auch nicht so wahrscheinlich ist, dass eine Weiterbeschäftigungsverfügung nach dem Gebot der Effektivität und der Ausgewogenheit des einstweiligen Rechtsschutzes erforderlich ist.
7. Der für eine Weiterbeschäftigungsverfügung gemäß § 940 ZPO erforderliche Verfügungsgrund kann jedenfalls nur bis zu einer erstinstanzlichen Entscheidung im Hauptsacheverfahren anerkannt werden.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 5 S. 1; ZPO § 940; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 Art. 1, Art. 2; BGB § 275 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG München (Urteil vom 10.09.2003; Aktenzeichen 12 Ga 455/03) |
Tenor
Die Berufung der Verfügungsbeklagten gegen dasUrteil desArbeitsgerichts München vom10.09.2003 – 12 Ga 455/03 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im einstweiligen Verfügungsverfahren über den Anspruch des Klägers auf Weiterbeschäftigung.
Die Beklagte ist ein Elektrotechnikunternehmen, das in vier Betriebe unterhält. In dem Betrieb H sind zurzeit (noch) etwa 5.600 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich A und etwa 1.700 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich B beschäftigt.
Der am 10.11.1950 geborene Kläger ist Diplom-Ingenieur und seit 16.05.1978 bei der Beklagten beschäftigt. Zuletzt war der Kläger als Systemtester im Betrieb H beschäftigt.
Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gelten vereinbarungsgemäß die so genannten „Vertragsbedingungen Außertariflicher Mitarbeiter 1. Oktober 1996”. Diese Vertragsbedingungen enthalten in Nr. 1 eine Versetzungs- und in Nr. 12 eine Freistellungsklausel.
Wegen eines erheblichen Auftrags- und Umsatzrückgangs beschloss der …-Bereichsvorstand im Juli bzw. September 2002, die Personalkapazität an den Bedarf anzupassen und das so genannte C-Geschäft (…) neu zu organisieren.
Diesbezüglich vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat H den Interessenausgleich „Kapazitätsanpassung und Neuausrichtung des C-Geschäfts” vom 23.10.2002. Gemäß Nr. 3.1 dieses Interessenausgleichs wurde „mit Wirkung zum 01.11.2002” die „neue C.-Organisation eingeführt” und gemäß Nr. 4.3 sollten 1.100 Arbeitnehmer „– so weit möglich – einvernehmlich … ausscheiden” und dementsprechend „höchstens 1.100 betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen” werden.
Auf der Grundlage dieses Interessenausgleichs kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 15.01.2003 im Geschäftsbereich A – gegen den Widerspruch des Betriebsrats – insgesamt 154 Arbeitnehmern, die sie alle „ab sofort” unter Fortzahlung der Vergütung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung bis zum Ablauf der jeweiligen Kündigungsfrist freistellte.
Dem Kläger wurde – gegen den Widerspruch des Betriebsrats – mit Schreiben vom 15.01.2003 zum 31.08.2003 gekündigt und die sofortige Freistellung erklärt.
Dagegen hat der Kläger mit der Klageschrift vom 29.01.2003 die Kündigungsschutz- und Weiterbeschäftigungsklage 23 Ca 2068/03 ArbG München erhoben.
Im vorliegenden Verfahren hat der Kläger mit seiner Antragsschrift vom 29.07.2003 unter Berufung auf § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG beantragt, die Beklagte durch einstweilige Verfügung zu verurteilen, ihn „bis zur Rechtskraft der Entscheidung in dem Rechtsstreit … 23 Ca 2068/03 … als Systemteste...