Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Tarifliches Verständnis zum Begriff "Arbeitsstätte"
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.
2. Verwenden die Tarifvertragsparteien den Begriff "Arbeitsstätte", so verstehen sie darunter den Ort oder die Stelle, an welcher der Arbeitnehmer primär seiner vertraglich geschuldeten Leistung nachzugehen hat. Der Arbeitsort und damit die Arbeitsstätte setzen voraus, dass die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung hier erfüllt wird.
Normenkette
TVG § 3 Abs. 1; MTV Logistik Bayern § 18 Nr. 3 Fassung: 2014-10-01
Verfahrensgang
ArbG München (Entscheidung vom 26.12.2019; Aktenzeichen 17 Ca 8073/18) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 26.12.2019 - 17 Ca 8073/18 abgeändert und die Klage auf Kosten des Klägers abgewiesen.
II. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten auch im Berufungsverfahren um die Höhe der dem Kläger zustehenden Spesenzahlungen.
Der Kläger ist seit 8. Aug. 2006 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Paket-Logistik-Branche mit deutschlandweit ca. 15.000 Mitarbeitern, als Paketzusteller in Vollzeit (28,5 h/Woche) bei einem monatlichen Bruttoentgelt von zuletzt € 4.400,00 beschäftigt. Sie betreibt in ihrem Betrieb in Y. ein sog. Center (Operation der Paketzustellung) mit derzeit ca. 300 Mitarbeitern, u.a. ca. 110 Paketzusteller in Vollzeit.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme, aber auch kraft beidseitiger Tarifbindung, die Tarifverträge des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe in Bayern Anwendung. Im aktuellen Arbeitsvertrag des Klägers vom 1. Nov. 2014 (Anlage B1, Bl. 185 ff. d. A.) ist u.a. vorgesehen:
"...
§ 1 Tätigkeit und Aufgabengebiete
...
2. ...
Dienstsitz des Mitarbeiters ist der Z.-Betrieb in Y..
...
Wird der Mitarbeiter als Paketzusteller eingesetzt, so umfasst sein Aufgabengebiet die Zustellung und Abholung von Paketsendungen, damit verbundene Schreib- und Inkassotätigkeiten sowie im Bedarfsfall Be- und Entladetätigkeiten und Wagenpflege.
§ 2 Anwendbare Tarifverträge
Für das Arbeitsverhältnis gelten die Tarifverträge des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe in Bayern in ihrer jeweils gültigen Fassung.
..."
Im anwendbaren Manteltarifvertrag des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe in Bayern vom 1. Okt. 2014 (Auszug Anlage B3, Bl. 198 ff., 210 d. A.; nachfolgend MTV Logistik) ist u.a. geregelt:
"...
§ 18 Spesen
...
3. Arbeitnehmer, die aufgrund der ihnen übertragenen Arbeiten vorübergehend von der regelmäßigen Arbeitsstätte abwesend sind und Kraftfahrer im Inlandsfernverkehr erhalten die steuerlichen Spesenpauschalsätze Inland in ihrer jeweils gültigen Fassung vergütet. Für die Entstehung des Spesenanspruches ist die Einhaltung der steuerlichen Bestimmungen (EStG) Voraussetzung.
..."
Der Kläger erhält einen Spesensatz von € 6,00 kalendertäglich bei einer Abwesenheit von mehr als 8 h, der dem früheren steuerlichen Spesensatz entsprochen hatte; der steuerliche Spesensatz seit dem 1. Jan. 2014 beträgt € 12,00 kalendertäglich, bei mehr als 8 h Abwesenheit von der Wohnung/Arbeitsstätte. § 9 Abs. 4a EStG i. d. F. seit 1. Jan. 2014 regelt dazu:
"... Wird der Arbeitnehmer außerhalb seiner Wohnung und ersten Tätigkeitsstätte beruflich tätig (auswärtige berufliche Tätigkeit), ist zur Abgeltung der tatsächlich entstandenen, beruflich veranlassten Mehraufwendungen eine Verpflegungspauschale anzusetzen. Diese beträgt:
...
3. 12,00 € für den Kalendertag, an dem der Arbeitnehmer ohne Übernachtung außerhalb seiner Wohnung mehr als acht Stunden von seiner Wohnung und der ersten Tätigkeitsstätte abwesend ist; beginnt die berufliche Tätigkeit an einem Kalendertag und endet am nachfolgenden Kalendertag ohne Übernachtung, werden 12,00€für den Kalendertag gewährt, an dem der Arbeitnehmer den überwiegenden Teil der insgesamt mehr als acht Stunden von seiner Wohnung und der ersten Tätigkeitsstätte abwesend ist."
Die Beklagte hatte bereits vor Eingreifen ihrer Tarifbindung im Jahr 1994 den Paketzustellern eine arbeitstägliche Mehraufwendungsentschädigung entrichtet, wenn diese länger als acht Stunden unterwegs waren. Die Entschädigung war in unterschiedlicher Höhe, zuletzt in den 1990‚er Jahren in Höhe von 8,00 DM bezahlt worden....