Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtscharakter tariflicher Protokollnotizen. Auslegung normativer tariflicher Protokollnotizen. Rückwirkende Änderung tariflicher Regelungen. Rechtsnormen mit echter Rückwirkung. Unechte Rückwirkung im Tarifrecht

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Protokollnotizen können als Auslegungshilfe gemeint sein, sie können auch als schuldrechtliche oder normative Tarifnorm vereinbart sein. Ob eine zwischen den Tarifvertragsparteien geschlossene Vereinbarung Rechtscharakter hat, hängt neben der Erfüllung des Schriftformerfordernisses davon ab, ob darin der Wille der Tarifvertragsparteien zur Normsetzung hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt. Dies ist im Weg der Auslegung nach den allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts zu ermitteln.

2. Hat eine tarifliche Protokollnotiz normativen Charakter, finden die generell bei der Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags auch für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln Anwendung.

3. Tarifvertragliche Regelungen tragen den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Abänderung durch Tarifvertrag in sich. Ein jüngerer Tarifvertrag löst grundsätzlich einen älteren Tarifvertrag ab. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung ist allerdings durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt.

4. Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie in einen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich eingreift. Ihr sind durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes enge Grenzen gesetzt. Sie ist zulässig, wenn die Normunterworfenen damit rechnen mussten, dass es Änderungen zu ihren Ungunsten geben könnte.

5. Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige Sachverhalte oder Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich bereits bestehende Rechtspositionen beeinträchtigt (sog. "tatbestandliche Rückanknüpfung"). Unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig. Der zu beachtende Vertrauensschutz geht nicht so weit, den normunterworfenen Personenkreis vor Enttäuschungen zu bewahren.

 

Normenkette

TVG § 1 Abs. 2; BGB §§ 126, 126a, 133, 157; MTV Cockpitpersonal Nr. 4 v. 01.11.2016 § 15 Abs. 14

 

Verfahrensgang

ArbG München (Entscheidung vom 02.02.2022; Aktenzeichen 39 Ca 2188/21)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 02.02.2022, Az.: 39 Ca 2188/21wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über tarifvertragliche Zahlungsansprüche des Klägers auf Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste und auf Umsetzung einer linearen Gehaltserhöhung.

Der Kläger ist seit dem 01.05.2002 auf Grundlage des als Anlage B10 (Bl. 242 ff. d. A.) vorgelegten Arbeitsvertrages am Stationierungsort Z tätig und zuletzt als Flugkapitän auf dem Muster B737-800 eingesetzt. Sein durchschnittliches Bruttomonatsgehalt beträgt derzeit als CP5 12.245,89 €.

Der Kläger ist Mitglied der Y e.V. Auf das Arbeitsverhältnis finden die zwischen der Y e. V. und der Beklagten abgeschlossenen Haustarifverträge, d. h. der Manteltarifvertrag Nr. 4 für das Cockpitpersonal (MTV Nr. 4, vorgelegt als Anlage K2, Bl. 18 ff. d. A.), und der Vergütungstarifvertrag Nr. 6 für das Cockpitpersonal (VTV Nr. 6, vorgelegt als Anlage K12, Bl. 285 ff. d. A.) Anwendung. Gemäß § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 werden nicht abgerufene Standby-Dienste wertmäßig mit jeweils zwei Mehrflugstunden in der ersten Stufe des jeweils gültigen VTV vergütet.

Die Beklagte ist ein Luftfahrtunternehmen mit etwa 2.400 Beschäftigten, dabei regelmäßig mehr als 1.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Bereich des fliegenden Personals.

Am 23.11.2017 verständigten sich die Beklagte und die Y e.V. auf eine Tarifvereinbarung (im Folgenden: Tarifvereinbarung 2017, vorgelegt als Anlage K1, Bl. 9 ff. d. A.). Die Y e. V. wollte mit dieser Vereinbarung eine Beschäftigungssicherung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Cockpitpersonals erreichen. In der Tarifvereinbarung 2017 heißt es auszugsweise:

"I. Betrieb von 39 Flugzeugen

1. Ab dem Sommerflugplan 2018 werden mindestens 35 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von der C. betrieben, wobei bis zu maximal 7 der 35 Flugzeuge im Wetlease an Dritte vermarktet werden. Ab dem Sommerflugplan 2019 werden, für die verbleibende Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020), insgesamt mindestens 39 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von der C. betrieben, wobei bis zu maximal 7 der 39 Flugzeuge im Wetlease an Dritte vermarktet werden.

Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 35 Flugzeugen für folgende Zeiträume:

- 01.05.2018 bis 31.10.2018 Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 39 Flugzeugen für folgende Zeiträume:

- 01.05.2019 bis 31.10.2019 - 01.05.2020 bis 31.10.2020.

(...)

2. Der unter Ziffer 1 beschriebene Betrieb von mindestens 35 Flugzeugen in dem Jahr 2018 und 39 Flugzeugen ab dem Jahr 2019 samt den dort aufgeführten Regelungen betreffend der saisonalen Schwankungen sowie der Verfahren...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge