Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorbehalt der nachträglichen Abänderung von tarifvertraglichen Regelungen. Begrenzung der Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung tarifvertraglicher Regelungen durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen. Ansprüche eines Flugkapitäns aus einem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für die Mitarbeiter des Cockpitpersonals auf Vergütung von Standby-Diensten und auf eine Tariflohnerhöhung. Rechtsnormqualität einer Protokollnotiz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ist das Schriftformerfordernis des § 1 Abs 2 TVG gewahrt, haben die Tarifvertragsparteien dem Wortlaut nach eine "Vereinbarung" getroffen und ist unmittelbar das Schicksal von Ansprüchen der Arbeitnehmer betroffen, ist davon auszugehen, dass eine bloße Auslegungshilfe nicht gewollt sein kann und eine solche Protokollnotiz Rechtsnormqualität besitzt.

2. Tarifvertragliche Regelungen tragen den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Abänderung durch Tarifvertrag in sich. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung tarifvertraglicher Regelungen ist allerdings durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt; es gelten insoweit die gleichen Regelungen wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen.

3. Einzelfallentscheidung zu Ansprüchen eines Flugkapitäns aus einem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für die Mitarbeiter des Cockpitpersonals auf Vergütung von Standby-Diensten und auf eine Tariflohnerhöhung.

 

Normenkette

TVG §§ 1, 1 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.03.2020; Aktenzeichen 15 Ca 6412/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 30.11.2022; Aktenzeichen 5 AZR 27/22)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 18.03.2020 - Az.: 15 Ca 6412/19 - wird zurückgewiesen.

2. Auf die Berufung der Beklagten wird das unter 1. bezeichnete Urteil teilweise abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Ansprüche aus einem Tarifvertrag auf Vergütung von Standby-Diensten und auf eine Gehaltserhöhung.

Der Kläger ist seit dem 01.11.1988 bei Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin am Stationierungsort B. tätig, zuletzt als Flugkapitän auf dem Muster B737. Sein durchschnittliches Bruttomonatsgehalt beträgt bei einer Beschäftigung im Umfang von 76,94 % der Vollarbeitszeit derzeit 14.852,88 €. Der Kläger ist Mitglied des Vereinigung D. e. V.

Die Beklagte ist ein Luftfahrtunternehmen mit etwa 2.400 Mitarbeitern, dabei regelmäßig mehr als 1.000 Arbeitnehmern im Bereich des fliegenden Personals.

Am 23.11.2017 traf die Beklagte mit der Vereinigung D. e. V. eine Tarifvereinbarung (vgl. Blatt 44 ff. der Akte). Der Tarifvereinigung D. e. V. wollte mit dieser Vereinbarung eine Beschäftigungssicherung für die Mitarbeiter des Cockpitpersonals erreichen. In der Tarifvereinbarung heißt es auszugsweise:

"I. Betrieb von 39 Flugzeugen

1. Ab dem Sommerflugplan 2018 werden mindestens 35 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von der U. betrieben, wobei bis zu maximal 7 der 35 Flugzeuge im Wetlease an Dritte vermarktet werden. Ab dem Sommerflugplan 2019 werden, für die verbleibende Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum ein 31.12.2020), insgesamt mindestens 39 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von der U. betrieben, wobei bis zu maximal 7 der 39 Flugzeuge im Wetlease an Dritte vermarktet werden.

Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 35 Flugzeugen für folgende Zeitraum:

- 01.05.2018 bis 31.10.2018

Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 39 Flugzeugen für folgende Zeiträume:

- 01.05.2019 bis ein 31.10.2019

- 01.05.2020 bis ein 31.10.2020. [...]

III. Manteltarifvertrag [...]

3. Die zum 01. November 2016 im § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 eingeführte Bezahlung für nicht abgerufene Standby Dienste wird zum 31. Dezember 2017 ersatzlos gestrichen. [...]

IV. Unterschreitung der Anzahl an Flugzeugen

1. Sobald der unter I. Ziffer 1 geregelte Betrieb der vereinbarten Mindestanzahl (35 Flugzeuge im Jahr 2018 und 39 Flugzeuge ab dem Jahr 2019) während der Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020) unterschritten wird, leben die Regelung zum Standby-Konzept und der Dienstplanstabilität, die unter III. Ziffer 2 und 3 dieser Tarifvereinbarung ausgesetzt wurden, mit sofortiger Wirkung wieder auf. Dies gilt unabhängig von anderslautenden Regelungen eines jeweils gültigen Manteltarifvertrages zum Standby-Konzept und der Dienstplanstabilität

Darüber hinaus wird in diesem Falle rückwirkend zum 01. Januar des jeweiligen Vorjahres eine zusätzlich lineare Gehaltssteigerung von 2,5 % vorgenommen. Klarstellend wird darauf hingewiesen, dass die vereinbarten Vergütungserhöhungen hiervon unberührt bleiben. Auf dieser Gehaltssteigerung basierend sind alle Beträge des VTV Nr. 6 (bspw. Gehaltstabellen, Mehrflugstundenvergütung, Trainerzulagen et...

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