Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialauswahl. im Ausland zu erfüllende Unterhaltspflicht. Präklusion

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Nichtbeachtung von im Ausland zu erfüllenden Unterhaltspflichten in einer Auswahlrichtlinie gemäß § 95 Abs. 1 BetrVG widerspricht der Wertentscheidung des Art. 6 GG, die bei der Konkretisierung des in § 75 Abs. 1 BetrVG normierten Gebots zur Wahrung der Grundsätze von Recht und Billigkeit von den Arbeitsgerichten zu beachten ist. Dabei ist der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG nicht auf rein inlandsbezogene Ehen und Familien beschränkt. Er umfasst vielmehr eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet worden und ob die Rechtswirkung des ehelichen oder familiären Bandes nach deutschem oder ausländischem Recht zu beurteilen sind, solange es sich um Lebensgemeinschaften handelt, die der Vorstellung des Grundgesetzes von Ehe und Familie nicht grundlegend fremd sind wie die Mehrehe. Missbrauchsmöglichkeiten lässt sich durch die Pflicht zum Nachweis des Bestehens und der Erfüllung ausländischer Unterhaltsverpflichtungen begegnen. Dabei können je nach der Eilbedürftigkeit des Kündigungsausspruches auch kurze Fristen gesetzt werden.

2. Zu den Voraussetzungen der Zurückverweisung verspäteten Vorbringens nach § 67 Abs. 4 Satz 2 ArbGG.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 3; BetrVG § 102; ArbGG §§ 66-67

 

Verfahrensgang

ArbG Hannover (Urteil vom 02.12.2002; Aktenzeichen 5 Ca 206/02)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 02.12.2002 – 5 Ca 206/02 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die vom Arbeitsgerichtsausgesprochene Feststellung zur Klarstellung wie folgt gefasst wird:

Es wird festgestellt, dass das von der Beklagten auf die W… GmbH & Co. KG übergegangene Arbeitsverhältnis des Klägers durch die Kündigung der Beklagten vom 22.03.2002 nicht zum 31.10.2002 aufgelöst worden ist.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Beklagten auferlegt.

3. Der Gegenstandswert wird auf 7.598,22 EUR festgesetzt.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Der 1948 geborene Kläger war seit dem 21.03.1973 bei der S… AG, deren Rechtsnachfolgerin die Beklagte ist, beschäftigt. Er ist verheiratet. Ausweislich der Bescheinigung des örtlichen Bürgermeisters auf einem Formular der UNMIK (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo) vom 04.03.2002 gewährt er seiner im Kosovo lebenden Frau und seiner volljährigen, Tochter Unterhalt (B1. 35-38 d.A.). Die Tochter des Klägers ist behindert. Weder seine Ehefrau noch die Tochter haben anderweitige Einkünfte. Mit Empfangsbestätigungen vom 20.08.2002 bescheinigten die Angehörigen des Klägers, dass dieser ihnen im Jahr 2002 bis einschließlich Juli jeweils 4.250,– EUR Unterhalt gewährt habe (B1. 43 f. d.A.). Der Kläger verdiente zuletzt durchschnittlich 2.532,74 EUR brutto monatlich. Er ist behindert mit einem GdB von 30.

Die Beklagte war im Jahr 2002 der weltgrößte Hersteller von Metallvakuumverschlüssen. Daneben produzierte sie Getränkedosen und PETFlaschen. Sie unterhielt neben dem Werk in H…, in dem Anfang 2002 neben dem Kläger 470 Arbeitnehmer beschäftigt waren, unter anderem Werke in Italien und den Niederlanden. In H… produzierte sie Weißblechverschlüsse. Die Produktion dieser Glasverschlüsse unterfiel in die Vor- und die Endfertigung. In der Vorfertigung wurden Feinstblechbänder (coils) auf Tafelformate zugeschnitten und anschließend an den Druck- und Lackierlinien lackiert und bedruckt.

Dabei wurde jede Lack- und Druckmaschine von jeweils einem angelernten Lackierer beziehungsweise gelernten Blechdrucker bedient. Für je zwei Fertigungslinien war ferner ein Ofenauditor eingesetzt, dessen Aufgabe es war, die bedruckten/lackierten Bleche im Rahmen der Qualitätssicherung zu überprüfen, abzustapeln und für den Staplerfahrer bereitzustellen. Schließlich wurden je Schicht zwei Staplerfahrer beschäftigt, die das Material bereitstellten und die fertig zugeschnittenen Tafeln wegfuhren. Insgesamt beschäftigte die Beklagte in schichtbezogenen Funktionen in der Vorfertigung Ende 2001 51 Lackierer und 49 Drucker, 12 Gabelstaplerfahrer und 25 Ofenauditoren (Anlage BK 1, Bl. 156 d.A.).

In der Endfertigung wurden sodann die vom Kunden gewünschten Durchmesser aus den Tafeln ausgestanzt, angerollt und in die gewünschte Verschlussgeometrie gebracht. Zuletzt wurde in das Innere eines jeden Verschlusses ein Dichtungsring (Compound) eingespritzt. Vor- und Endfertigung produzierten mit unterschiedliche Maschinen, die unterschiedliche Qualifikationen der Arbeitnehmer erfordern.

Der Kläger war als Staplerfahrer in der Endfertigung eingesetzt.

Die Beklagte produzierte im Werk H… im Jahr 2001 3,1 Mrd. Caps, im Jahr 2002 3,8 Mrd. Caps. Im Oktober 2001 wurde ihr Werk in den Niederlanden geschlossen. Das Werk H… hatte für die in diesem Werk produzierten 1,5 Mrd. Verschlüsse sämtliche Blechtafeln gesch...

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