Entscheidungsstichwort (Thema)

Parallelentscheidung zu LAG Niedersachsen 10 Sa 403/20 v. 23.02.2021

 

Leitsatz (amtlich)

1. Den Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern kommt aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und auf die betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht.

2. Allerdings verpflichtet der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG die Arbeitsgerichte dann zur Beschränkung der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen und gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen unterbinden.

3. Die Differenzierung bei der Höhe des Zuschlags zwischen ungeplanter Nachtarbeit und zur Nachtzeit geleisteter Schichtarbeit im MTV für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachsen/Bremen vom 23. August 2005 ist sachlich gerechtfertigt. Die Tarifvertragsparteien haben die Nachtarbeit als Ausnahme gegenüber der Nachtschichtarbeit angesehen und zulässigerweise als belastender eingestuft.

 

Normenkette

ArbZG § 6 Abs. 5; GG Art. 1 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; MTV für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie, Mineralbrunnenindustrie Niedersachsen/Bremen § 4 Nr. 2 Fassung: 2005-05-23, § 5 Nr. 2 Fassung: 2005-05-23, Nr. 3 Fassung: 2005-05-23

 

Verfahrensgang

ArbG Oldenburg (Oldenburg) (Entscheidung vom 05.02.2020; Aktenzeichen 2 Ca 268/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 21.02.2024; Aktenzeichen 10 AZR 167/21)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 5. Februar 2019 - 2 Ca 268/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge.

Der Kläger ist bei der Beklagten, die Mineralwasser und Süßgetränke herstellt, in Schichtarbeit beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund beidseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachsen/Bremen vom 23. August 2005 (nachfolgend: MTV) Anwendung. Die einschlägigen Tarifnormen lauten:

"§ 4

Alters- und Schichtfreizeit

...

2. Schichtfreizeit (Geltung nur für Arbeitnehmer in Unternehmen gem. § 1 Ziffer 2a)

Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 gelistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.

Arbeitnehmer, die ständig im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 55 geleistete Spätschichten eine Freischicht.

Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 20.00 Uhr andauert.

...

§ 5

Mehrarbeit, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

1. Begriffsbestimmung

...

c) Nachtarbeit

Nachtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit, soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt.

...

2. Zuschläge

Für Mehrarbeit, Nachtarbeit, Schichtarbeit in der Nacht, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:

a) für Mehrarbeit

25%

ab der 3. Mehrarbeitsstunde am Tage

30%

...

b) für Nachtarbeit

50%

c) für Schichtarbeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr

25%

...

3. Berechnung der Zuschläge

...

b) Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen.

Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Schichtarbeit (§ 5 Abs. 2c). Dieser Zuschlag ist auch bei Zusammentreffen mit anderen Zuschlägen zu zahlen.

...

§ 14

Ausschlussfrist

Gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Beschäftigungsverhältnis sind innerhalb einer Ausschlussfrist von 3 Monaten ab Entstehen des Anspruches geltend zu machen."

Bei der Beklagten wird im Zwei- oder Dreischichtsystem gearbeitet. Die Spätschicht endet um 20:00 Uhr. Der Kläger wird in Wechselschicht beschäftigt und leistet dabei auch Nachtschichten. Für diese erhält er einen Zuschlag von 25 v.H. auf den üblichen Stundenlohn.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die unterschiedliche Behandlung von Nachtschicht- und unregelmäßiger Nachtarbeit bei der Zuschlagshöhe verstoße gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Sie ermangele einer sachlichen Rechtfertigung. Zweck der Zuschläge sei es, die mit Nachtarbeit üblicherweise einhergehenden gesundheitlichen und sozialen Nachteile auszugleichen. Diese entstünden unabhängig davon, ob die Nachtarbeit innerhalb eines Schichtsystems erfolge. Je häufiger nachts gearbeitet werde, desto höher sei die gesundheitliche Belastung; daher dürften regelmäßig nachts Arbeitende ni...

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