Entscheidungsstichwort (Thema)

Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien aus Art. 9 Abs. 3 GG. Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien. Grenze der Tarifautonomie durch Art. 3 Abs. 1 GG. Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Sachlicher Grund für unterschiedlich hohe Nachtarbeitszuschläge. Keine Angemessenheitsprüfung der Zuschlagshöhe durch die Gerichte

 

Leitsatz (amtlich)

Die tarifliche Festlegung unterschiedlich hoher Nachtarbeitszuschläge bei Nachtarbeit einerseits und Nachtschichtarbeit andererseits im Manteltarifvertrag für die Nährmittelindustrie und Fettschmelzen zwischen dem Arbeitgeberverband der Bayerischen Ernährungswirtschaft e. V. und der Gewerkschaft NGG, Landesbezirk Bayern vom 03.06.2005 verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern steht aufgrund der durch Artikel 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie sind befugt, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen für ihre jeweilige Branche eigenverantwortlich zu regeln.

2. Die Tarifvertragsparteien haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht.

3. Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Arbeitsgerichte, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu einer Gruppenbildung führen, mit der Art. 3 GG verletzt wird. Im Einzelfall sind deshalb Koalitionsfreiheit und darauf aufbauende Tarifregelungen und damit kollidierende Grundrechte wie der Gleichheitssatz nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz mit dem Ziel möglichst weitgehender Wirksamkeit für die Beteiligten zu einem Ausgleich zu bringen.

4. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen.

5. Eine Regelung in einem Tarifvertrag, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Zuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtschichtarbeit, verstößt dann nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, wenn ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung gegeben ist. Ein sachlicher Grund für die Differenzierung ergibt sich aus der Tatsache der erschwerten Planbarkeit der Freizeit für Arbeitnehmer, die unregelmäßig Nachtarbeit leisten, und dem in diesem Zusammenhang erforderlichen zusätzlichen Anreiz für Arbeitnehmer, diese unregelmäßige Nachtarbeit zu leisten.

6. Eine Angemessenheitsprüfung im Hinblick auf die Höhe der Differenz der Zuschläge erfolgt seitens der Gerichte nicht. Es liegt im Ermessen der Tarifvertragsparteien, wie sie den Aspekt der schlechteren Planbarkeit für die Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, finanziell bewerten und ausgleichen.

 

Normenkette

GG Art. 3, 9 Abs. 3; TVG § 1; ArbZG § 6 Abs. 5

 

Verfahrensgang

ArbG Würzburg (Entscheidung vom 06.08.2020; Aktenzeichen 6 Ca 1306/19)

ArbG Würzburg (Entscheidung vom 06.08.2020; Aktenzeichen 6 Ca 1435/19)

ArbG Würzburg (Entscheidung vom 06.08.2020; Aktenzeichen 6 Ca 1431/19)

ArbG Würzburg (Entscheidung vom 06.08.2020; Aktenzeichen 6 Ca 1426/19)

 

Tenor

I. Die Berufungen der Kläger gegen die Endurteile des Arbeitsgerichtes Würzburg - Kammer Aschaffenburg - vom 06.08.2020 - 6 Ca 1426/19 -, 6 Ca 1431/19 -, - 6 Ca 1435/19 - und - 6 Ca 1306/19 - werden kostenpflichtig zurückgewiesen.

II. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Höhe der tariflichen Nachtarbeitszuschläge.

Die Kläger sind bei der Beklagten beschäftigt, der Kläger zu 1) seit 01.08.2017, der Kläger zu 2) seit 11.09.1990, der Kläger zu 3) seit 01.05.2015 und der Kläger zu 4) seit 13.02.2006.

Die Kläger erbringen ihre Arbeitsleistung in Wechselschicht im Dreischichtbetrieb.

Auf die Arbeitsverhältnisse der Kläger findet der MTV für die Nährmittelindustrie und Fettschmelzen zwischen dem Arbeitgeberverband der Bayerischen Ernährungswirtschaft e.V. und der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten, Landesbezirk Bayern vom 03.06.2005 (Im Folgenden: MTV) Anwendung.

Dieser sieht unter anderem vor:

§ 4

Mehr-, Nacht-, Wechselschicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit

1. Mehrarbeit ist jede über die betrieblich vereinbarte regelmäßige werktägliche Arbeitszeit hinausgehende geleistete Arbeit, soweit sie angeordnet oder genehmigt ist. Mehrarbeit ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Ist sie unvermeidlich, so ...

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