Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds. "Wichtiger Grund" i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Umfassende Interessenabwägung vor Ausspruch einer Kündigung. Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung. Zweckbestimmung des § 23 Abs. 1 BetrVG

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gemäß § 103 Abs. 1 BetrVG ist die außerordentliche Kündigung von Mitgliedern des Betriebsrats nur mit Zustimmung des Betriebsrats zulässig. Verweigert der Betriebsrat die Zustimmung, so kann das Arbeitsgericht gemäß § 103 Abs. 2 BetrVG sie auf Antrag des Arbeitgebers ersetzen, wenn die außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist.

2. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht. Eine beharrliche Arbeitsverweigerung kann ein wichtiger Grund sein.

3. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

4. Beruht die Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.

5. Bei grob pflichtwidrigen Handlungen besteht von Gesetzes wegen die tatsächliche Vermutung, das Betriebsratsmitglied bzw. der Betriebsrat werde auch für den Rest der Amtszeit das Amt nicht pflichtgemäß wahrnehmen. § 23 Abs. 1 BetrVG dient deshalb nicht dazu, früheres Verhalten zu sanktionieren. Dieses ist vielmehr nur Anknüpfungspunkt für die Amtsenthebung, um die Gesetzmäßigkeit der Betriebsratsarbeit für die Zukunft zu gewährleisten.

 

Normenkette

BetrVG § 103; BGB § 626; BetrVG § 23 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 1; BGB § 273 Abs. 1; BGH § 275 Abs. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 06.04.2021; Aktenzeichen 4 BV 3/20)

 

Tenor

  1. Die Beschwerde der Beteiligten zu 1) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - vom 06.04.2021 - 4 BV 3/20 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
 

Gründe

I.

Die Beteiligten des vorliegenden Beschluss- und Beschwerdeverfahrens streiten darüber, ob die Beteiligte zu 1) die Ersetzung der Zustimmung des Beteiligten zu 2) zur außerordentlichen Kündigung des Beteiligten zu 3) aus verhaltens- und personenbedingten Gründen verlangen kann sowie darüber, ob der Beteiligte zu 3) hilfsweise aus dem Betriebsrat der Beteiligten zu 1) auszuschließen ist.

Der Beteiligte zu 3) ist bei der Beteiligten zu 1), wie bereits zuvor bei den Rechtsvorgängen, seit dem 01.03.2002 als Equipment Operator (s. Bl. 10 d.A.) beschäftigt und erhält derzeit eine Bruttomonatsvergütung von 6.555,- EUR. Er ist 1967 geboren, verheiratet, und einem Kind zum Unterhalt verpflichtet. Des Weiteren ist der Beteiligte zu 3) Mitglied des Beteiligten zu 2), des Betriebsrats der Beteiligten zu 1).

Nachdem die Beteiligte zu 1) das Arbeitsverhältnis zwischen ihr und dem Beteiligten zu 3) zuvor mit Kündigung vom 12.06.2020 gekündigt hatte, aber Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser ohne Zustimmung des Beteiligten zu 2) erfolgten Kündigung hatte, beantragt sie mit Schreiben vom 20.07.2020 (s. Bl. 18 ff. d.A.) die Zustimmung des Beteiligten zu 2) zur außerordentlichen Kündigung, hilfsweise zur außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist. Nachdem der Beteiligte zu 2) dem Antrag nicht zugestimmt hat, verfolgt die Beteiligte zu 1) ihr Begehren im vorliegenden Verfahren weiter; hilfsweise begehrt sie den Ausschluss des Beteiligten zu 3) aus dem Beteiligten zu 2).

Die Beteiligte zu 1) hat vorgetragen,

der Beteiligte zu 3) habe mehrere Vertragsverstöße zu Lasten der Beteiligten zu 1) und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika begangen, die auch einschlägig abgemahnt worden seien (s. Bl. 26 ff d.A.: zwei Abmahnungen aus dem Jahr 2017). Insbesondere habe der Beteiligte zu 3) vermehrt Mitarbeiter des Arbeitgebers angeschrieben und sich ihnen gegenüber äußerst unprofessionell und feindselig verhalten. Darüber hinaus habe er etwa im September 2018 einen heftigen Ausbruch am Arbeitsplatz gehabt. Ein M...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge