Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff "wichtiger Grund" im Tarifvertrag. Arbeitsunfähigkeit als wichtiger Grund. Anforderungen an eine fristlose Kündigung wegen Arbeitsunfähigkeit. Störung des Äquivalenzverhältnisses im vertraglichen Austauschverhältnis

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Sofern sich keine eindeutigen anderen Auslegungsmerkmale zeigen, knüpft der Begriff "wichtiger Grund" in einer tarifvertraglichen Bestimmung an die gesetzliche Regelung des § 626 Abs. 1 BGB an, deren Verständnis deshalb auch für die Auslegung der Tarifnorm maßgeblich ist.

2. Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit kann ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB sein, allerdings nur in eng begrenzten Fällen, etwa wenn die ordentliche Kündigung aufgrund tarifvertraglicher oder einzelvertraglicher Vereinbarung ausgeschlossen ist.

3. Für den Arbeitgeber kann infolge des tariflichen Ausschlusses der ordentlichen Kündigung die lange Bindungsdauer an das Arbeitsverhältnis bei einer Vertragsstörung unzumutbar sein. Zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs muss dann allerdings zugunsten des Arbeitnehmers zwingend eine der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist eingehalten werden. Überdies muss der Prüfungsmaßstab den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die nach § 626 Abs. 1 BGB an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind.

4. Für ein nach § 34 Abs. 2 Satz 1 TVöD-VKA ordentlich unkündbares Arbeitsverhältnis kann ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung wegen gravierender Störung des Äquivalenzverhältnisses allein schon deshalb vorliegen, weil voraussichtlich im Durchschnitt mehr als ein Drittel der jährlichen Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung belastet sein wird.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2; TVöD-VKA § 34 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 20.03.2021; Aktenzeichen 3 Ca 1142/20)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - 3 Ca 1142/20 - vom 20. März 2021 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

  • II.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen auf krankheitsbedingte Gründe gestützten Kündigung mit sozialer Auslauffrist.

Die Beklagte unterhält in C-Stadt die W.-Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und beschäftigt mehr als zehn Mitarbeiter mit Ausnahme der zu ihrer Ausbildung Beschäftigten. Im Betrieb C-Stadt ist eine Mitarbeitervertretung gewählt.

Der bei Kündigungsausspruch 50 Jahre alte, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit 15. Mai 2004 bei der Beklagten als Heilerziehungspfleger - Mitarbeiter im Gruppendienst beschäftigt, zuletzt zu einem Bruttomonatsgehalt von 4.307,92 Euro. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 22. April 2004 (Bl. 4 ff. d. A.; im Folgenden: AV), kraft dessen § 2 auf das Arbeitsverhältnis der BAT-VKA in der für die Mitglieder des kommunalen Arbeitgeberverbandes Rheinland-Pfalz jeweils geltenden Fassung entsprechende Anwendung findet. Der Stiefsohn des Klägers, dessen Betreuer er ist, ist bei Zuerkennung eines GdB 100 und Pflegestufe 2 in der Einrichtung der Beklagten in C-Stadt beschäftigt.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten des Klägers erstmals am 15. Februar 2011. Der Kläger obsiegte im Kündigungsschutzprozess - nach einer zu seinem Gesundheitszustand durchgeführten Beweisaufnahme - über zwei Instanzen. Nach einer wegen Nichteinhaltung der Frist zur Anhörung der Mitarbeitervertretung unwirksamen Kündigung vom 29. Mai 2018 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut aus krankheitsbedingten Gründen am 28. September 2018 ordentlich zum 31. März 2019. Das Arbeitsgericht gab im vom Kläger angestrengten Kündigungsschutzprozess der Klage mit der Begründung statt, die Kündigung sei wegen einer Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers nach durchgeführtem Präventionsverfahren unverhältnismäßig und die Mitarbeitervertretung nicht ordnungsgemäß angehört worden. Ihre gegen das erstinstanzliche Urteil gerichtete Berufung hat die Beklagte zurückgenommen.

Der Kläger war im Zeitraum vom 08. Dezember 2017 bis 07. Dezember 2020 im folgende Umfang arbeitsunfähig erkrankt:

Krank mit LFZ Krank

ohne LFZ

Insgesamt

08.12.2017 - 11.12.2018 57 Arbeitstage

0

57 Arbeitstage

12.12.2018 - 11.12.2019 40 Arbeitstage

0

40 Arbeitstage

12.12.2019 - 07.12.2020 120 Arbeitstage

30 Arbeitstage

150 Arbeitstage

Wegen der Zeiträume der Erkrankungen, die überwiegend auf Kurzerkrankungen beruhten, und wegen der zugrundeliegenden Diagnosen wird auf die vom Kläger erstinstanzlich zur Akte gereichte Aufstellung (Bl. 47 f. d. A.) Bezug genommen.

Die Beklagte hörte mit Schreiben vom 08. Dezember 2020 bei auf neun Kalendertage verkürzter Anhörungsfrist die Mitarbeitervertretung wegen einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des tarifvertraglich ordentlich unkündbaren Klägers mit sozialer Auslauffrist an. Wegen der Einzelheiten des Anh...

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