Entscheidungsstichwort (Thema)
Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung mit sozialer Auslauffrist. Dreistufiges Prüfungsschema bei krankheitsbedingter Kündigung. Erhöhte Anforderungen an das dreistufige Prüfungsschema bei Krankheit als wichtigem Grund für eine fristlose Kündigung
Leitsatz (redaktionell)
1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit kann ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB sein.
2. Eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist eines ordentlich unkündbaren Arbeitsverhältnisses kann gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt auf Dauer außerstande ist, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen und ein Leistungsaustausch nicht mehr möglich ist. Die dauerhafte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses kann aber auch aufgrund zu erwartender häufiger Kurzerkrankungen unzumutbar sein.
3. Die Überprüfung einer krankheitsbedingten Kündigung hat in drei Stufen zu erfolgen. Zunächst bedarf es einer negativen Prognose hinsichtlich des weiteren Gesundheitszustands des zu kündigenden Arbeitnehmers. Im Anschluss daran ist zu prüfen, ob die entstandenen und prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Abschließend wird nach Maßgabe einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung geprüft, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinnehmbaren betrieblichen und/oder wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen.
4. Bei einer außerordentlichen Kündigung ist dieser Prüfungsmaßstab auf allen drei Stufen erheblich strenger. Er muss den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind. Die prognostizierten Fehlzeiten und die sich aus ihnen ergebende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen müssen deutlich über das Maß hinausgehen, welches eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen könnte. Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1; TVöD/VKA § 34 Abs. 2 S. 1; KSchG § 1 Abs. 2; BAT § 55
Verfahrensgang
ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 16.03.2021; Aktenzeichen 3 Ca 1142/20) |
ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 20.03.2021; Aktenzeichen 3 Ca 1142/20) |
Tenor
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen auf krankheitsbedingte Gründe gestützten Kündigung mit sozialer Auslauffrist.
Die Beklagte unterhält in C-Stadt die W.-Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und beschäftigt mehr als zehn Mitarbeiter mit Ausnahme der zu ihrer Ausbildung Beschäftigten. Im Betrieb C-Stadt ist eine Mitarbeitervertretung gewählt.
Der bei Kündigungsausspruch 50 Jahre alte, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit 15. Mai 2004 bei der Beklagten als Heilerziehungspfleger - Mitarbeiter im Gruppendienst beschäftigt, zuletzt zu einem Bruttomonatsgehalt von 4.307,92 Euro. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 22. April 2004 (Bl. 4 ff. d. A.; im Folgenden: AV), kraft dessen § 2 auf das Arbeitsverhältnis der BAT-VKA in der für die Mitglieder des kommunalen Arbeitgeberverbandes Rheinland-Pfalz jeweils geltenden Fassung entsprechende Anwendung findet. Der Stiefsohn des Klägers, dessen Betreuer er ist, ist bei Zuerkennung eines GdB 100 und Pflegestufe 2 in der Einrichtung der Beklagten in C-Stadt beschäftigt.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten des Klägers erstmals am 15. Februar 2011. Der Kläger obsiegte im Kündigungsschutzprozess - nach einer zu seinem Gesundheitszustand durchgeführten Beweisaufnahme - über zwei Instanzen. Nach einer wegen Nichteinhaltung der Frist zur Anhörung der Mitarbeitervertretung unwirksamen Kündigung vom 29. Mai 2018 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut aus krankheitsbedingten Gründen am 28. September 2018 ordentlich zum 31. März 2019. Das Arbeitsgericht gab im vom Kläger angestrengten Kündigungsschutzprozess der Klage mit der Begründung statt, die Kündigung sei wegen einer Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers nach durchgeführtem Präventionsverfahren unverhältnismäßig und die Mitarbeitervertretung nicht ordnungsgemäß angehört worden. Ihre gegen das erstinstanzliche Urteil gerichtete Berufung hat die Beklagte zurückgenommen.
Der Kläger war im Zeitraum vom 08. Dezemb...