Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksame außerordentliche Kündigung bei Versäumung der zweiwöchigen Kündigungsfrist. Unwirksame erneute Kündigung bei unterlassener Betriebsratsanhörung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gemäß § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB kann eine außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen; die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem die Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt und damit eine zuverlässige und möglichst vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihr die Entscheidung darüber ermöglicht, ob sie das Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht.

2. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die für als auch die gegen eine Kündigung sprechenden Umstände; die Kündigungsberechtigte, die bislang nur Anhaltspunkte für einen Sachverhalt hat, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, kann nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Betroffenen anhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen beginnt.

3. Ein Aufschub der Kündigungserklärung ist allerdings nur so solange möglich, wie die Kündigungsberechtigte aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchführt, die ihr eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts verschaffen sollen; soll der Kündigungsgegner angehört werden, muss dies innerhalb einer kurzen Frist erfolgen, die im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betragen darf.

4. Bei Vorliegen besonderer Umstände darf die Frist zur Anhörung des Kündigungsgegners auch überschritten werden; unerheblich ist, ob die Ermittlungsmaßnahmen tatsächlich zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen haben oder nicht.

5. Für eine Kündigung, die wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung ausgesprochen wird, gelten mit Blick auf § 626 Abs. 2 BGB grundsätzlich dieselben Erwägungen wie für eine Kündigung wegen einer als erwiesen angesehenen Straftat.

6. Hat die Arbeitgeberin nicht nachvollziehbar dargelegt, weshalb sie seit dem Tag der fristauslösenden Kenntniserlangung durch die Personalleiterin bis zur Anhörung des Arbeitnehmers über drei Wochen, bis zur Anhörung des Betriebsrats über vier Wochen und bis zur Zustellung der Kündigungen fünf Wochen hat verstreichen lassen, ist die Kündigung verspätet.

7. Die Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 BetrVG entfaltet nur für die Kündigung Wirksamkeit, für die das Anhörungsverfahren eingeleitet worden ist; die Arbeitgeberin hat demnach grundsätzlich für jede Kündigung ein Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG durchzuführen.

8. Einer erneuten Anhörung des Betriebsrats bedarf es immer, wenn die Arbeitgeberin bereits nach Anhörung des Betriebsrats eine Kündigung erklärt hat und nunmehr eine neue (weitere) Kündigung aussprechen will; das gilt auch dann, wenn die Arbeitgeberin die Kündigung auf den gleichen Sachverhalt stützt.

9. Das Gestaltungsrecht der Arbeitgeberin und die damit im Zusammenhang stehende Betriebsratsanhörung ist mit dem Zugang der Kündigungserklärung verbraucht.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 2; BetrVG § 102 Abs. 1; BGB § 626 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Koblenz (Entscheidung vom 31.07.2014; Aktenzeichen 10 Ca 602/14)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 31. Juli 2014, Az. 10 Ca 602/14, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von insgesamt neun Arbeitgeberkündigungen; drei fristlosen Kündigungen vom 23.01.2014, drei (hilfsweise) ordentlichen Kündigungen vom 23.01.2014 und drei ordentlichen Kündigungen vom 06.03.2014. Damit im Zusammenhang macht der Kläger Annahmeverzugslohn und seine Weiterbeschäftigung geltend.

Der 1958 geborene Kläger ist seit 01.07.2011 bei der Beklagten als Head of Sales Germany zu einem Bruttomonatsgehalt von € 10.600,- beschäftigt. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, einen jährlichen Bonus von € 11.000,- zu erhalten. Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb in N. 410 Arbeitnehmer; es besteht ein Betriebsrat.

Vom 23.12.2013 bis 01.01.2014 war über die Feiertage Betriebsruhe. Mit drei gesonderten Schreiben vom 17.01.2014 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu drei beabsichtigten außerordentlichen fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigungen des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger an. Sie informierte den Betriebsrat über -zusammengefasst - drei Kündigungsgründe:

1. "Spesenbetrug vier Hotelrechnungen"

Der Kläger habe in seinen Reisekostenabrechnungen im Jahr 2013 vier Hotelrechnungen (vom 05.02., 22.05., 09.08. und 20.08.2013) in einer Gesamthöhe von € 359,70 zur Erstattung geltend gemacht, obwohl diese Rechnungen bereits im Voraus über die Firmenkreditkarte beglichen worden seien. Er habe damit einen Reisekostenbetrug begangen. Der Kläger sei am 13.01.2014 von der Personalleiterin und dem Leiter Business Unit (BU-Leiter) zu den Vorfällen befragt und angehört worden.

2. "Verdacht des Spesenbetrugs vier Hotelrechnungen"

Das Verhalten des Klägers begr...

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