Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Berufungsbegründung. Dreistufiges Prüfungsschema bei der krankheitsbedingten Kündigung. Ultima-ratio-Prinzip im Kündigungsrecht. Keine Unwirksamkeit der Kündigung bei unterbliebenem betrieblichen Eingliederungsmanagement. Verlagerung der Darlegungs- und Beweislast bei unterbliebenem betrieblichen Eingliederungsmanagement
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Berufungsbegründung muss auf den Streitfall zugeschnitten sein. Sie muss sich mit den rechtlichen oder tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen, wenn sie diese bekämpfen will. Für die erforderliche Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen der angefochtenen Entscheidung reicht es nicht aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch das Arbeitsgericht mit formelhaften Wendungen zu rügen und lediglich auf das erstinstanzliche Vorbringen zu verweisen oder dieses zu wiederholen.
2. Die Überprüfung einer krankheitsbedingten Kündigung hat in drei Stufen zu erfolgen. Zunächst bedarf es einer negativen Prognose hinsichtlich des weiteren Gesundheitszustands des zu kündigenden Arbeitnehmers. Im Anschluss daran ist zu prüfen, ob die entstandenen und prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Abschließend wird nach Maßgabe einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung geprüft, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinnehmbaren betrieblichen und/oder wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen.
3. Aus dem das gesamte Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsprinzip folgt, dass auch eine aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers ausgesprochene Kündigung unverhältnismäßig und damit rechtsunwirksam ist, wenn sie durch mildere Mittel vermieden werden kann, d. h., wenn die Kündigung zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist.
4. Kündigt der Arbeitgeber, ohne zuvor das Präventionsverfahren durchzuführen, so führt dies für sich genommen nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die Einhaltung des Verfahrens gem. § 167 Abs. 2 SGB IX ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigungen gegenüber Schwerbehinderten und begründet auch keine Vermutung einer Benachteiligung wegen einer Behinderung.
5. Der Arbeitgeber kann sich ohne betriebliches Eingliederungsmanagement nicht pauschal darauf berufen, ihm seien keine alternativen, der Erkrankung angemessenen Einsatzmöglichkeiten bekannt. Denn der Arbeitgeber darf aus seiner dem Gesetz widersprechenden Untätigkeit keine darlegungs- und beweisrechtlichen Vorteile ziehen. Es bedarf vielmehr eines umfassenden konkreten Sachvortrags des Arbeitgebers zu einem nicht mehr möglichen Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher innegehabten Arbeitsplatz und einer nicht durchführbaren leidensgerechten Anpassung und Veränderung des Arbeitsplatzes bzw. eines alternativen Einsatzes auf einem anderen Arbeitsplatz.
Normenkette
KSchG § 1; ZPO § 520 Abs. 3 S. 2; GewO § 106; SGB IX § 84 Abs. 2, § 167 Abs. 2; BetrVG § 102 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Ludwigshafen (Entscheidung vom 28.06.2022; Aktenzeichen 10 Ca 185/21) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen - Auswärtige Kammern Landau - vom 28.06.2022 - 10 Ca 185/21 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien des vorliegenden Rechtsstreits streiten darüber, ob das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund einer ordentlichen, krankheitsbedingten Arbeitsgeberkündigung sein Ende gefunden hat, oder aber nicht.
Der 1982 geborene, nicht unterhaltsverpflichtete Kläger ist gelernter Tischler. Er wurde nach vorangegangener, auf die Betriebszugehörigkeit wohl angerechneter Zeitarbeit ab 01.05.2007 bei der Beklagten in Schichtarbeit unter Anwendung der "jeweiligen tariflichen Bestimmungen" (s. Bl. 3 d.A.) und damit wohl des betriebsüblich angewendeten ERA-Tarifwerks eingestellt; hinsichtlich des weiteren Inhalts des schriftlich zwischen den Parteien abgeschlossenen Arbeitsvertrages wird auf Bl. 3 - 6 d.A. Bezug genommen. Der Kläger war zuletzt als Montagearbeiter im Bereich TE-OWF rollierend eingesetzt in den Stationen Fahrerhaus auf Rahmen setzen und verschrauben, Lenkung einstellen, d.h. Lenkrad mit Vorderachse verbinden, Kotflügel an Vorderachse montieren, Einstiege und Innenkotflüge montieren und Betriebsbremsventile anschließen. Das monatliche Bruttoeinkommen lag bei ca. 3600,- EUR. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig weit mehr als 10,0 Arbeitnehmer in Vollzeit; ein Betriebsrat ist gebildet.
Der Kläger fehlte 2016 an 40 Arbeitstagen wegen Krankheit, jeweils mit Entgeltfortzahlung, und 2017 an 30 Arbeitstagen mit Entgeltfortzahlung. Die Beklagte nahm ein betriebliches Eingliederungsmanagement gegenüber dem Kläger auf und lud ihn zum Gesprächstermin am 25. April 2017. Der Kläger erschien hierzu in Begleitung eines Betriebsratsmitglieds, sah sich jedoch außer Stande ei...