Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksame außerordentliche Kündigung eines Erziehers in der Jugendhilfe bei unzureichenden Darlegungen des Arbeitgebers zu einer sexuellen Beziehung mit einer betreuten Jugendlichen und unzureichender Abmahnung
Leitsatz (redaktionell)
1. Für einen Erzieher in der Jugendhilfe ist ein berufsmäßiges Nähe-Abstand-Verhältnis zu den betreuten Jugendlichen unablässige Voraussetzung für seine Tätigkeit in der Jugendhilfe, so dass die Eingehung eines grenzüberschreitenden Näheverhältnisses gegenüber einer der Einrichtung zugewiesenen Maßnahmenteilnehmerin als erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzung eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses begründen kann.
2. Der Arbeitgeber hat eine als Kündigungsgrund geeignete sexuellen Beziehung zu einer minderjährigen Betreuten durch Tatsachen begründet darzulegen; der bloße Hinweis auf ein zwischenzeitlich eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs kann einen durch Tatsachen begründeten Sachvortrag des Arbeitgebers nicht ersetzen.
3. Zu den unverzichtbaren Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Abmahnung gehört neben der Rüge eines genau zu bezeichnenden Fehlverhaltens (Rügefunktion) der Hinweis auf die Bestands- oder Inhaltsgefährdung des Arbeitsverhältnisses für den Wiederholungsfall (kündigungsrechtliche Warnfunktion); der Arbeitgeber muss in einer für den Arbeitnehmer hinreichend deutlich erkennbaren Art und Weise seine Beanstandungen vorbringen und damit deutlich (wenn auch nicht ausdrücklich) den Hinweis verbinden, dass im Wiederholungsfall der Inhalt oder der Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdet ist.
4. Schon die Androhung "arbeitsrechtlicher Konsequenzen" kann eine hinreichende Warnung vor einer Bestandsgefährdung des Arbeitsverhältnisses sein.
Normenkette
BGB §§ 140, 626; SGB IX § 85; BGB § 314 Abs. 2, § 626 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Mainz (Entscheidung vom 11.03.2015; Aktenzeichen 4 Ca 2112/14) |
Tenor
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.
Der 1960 geborene Kläger, dem ein Grad der Behinderung von 70 zuerkannt ist, ist seit 01. März 2010 beim Beklagten als Erzieher beschäftigt. Er ist im Berufsbildungswerk W im Jugendhilfeteam einer Jugendeinrichtung eingesetzt und betreut der Einrichtung vom Jugendamt zugewiesene Jugendliche, die eine kombinierte Maßnahme (Hilfe zur Erziehung und Ausbildung/Berufsvorbereitung) absolvieren und hierzu in einer festgelegten Gruppe im Wohnbereich des Hauses untergebracht sind. Die Aufgabe des Klägers ist es, die Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern mit dem Ziel der eigenverantwortlichen Lebensführung.
Unter dem 13. Juni 2012 erhielt der Kläger eine "schriftliche Verwarnung" (Bl. 35 d. A.), in der dem Kläger ohne In-Aussicht-Stellen von Konsequenzen bei Wiederholung ua. vorgeworfen wurde, die strikte Abgrenzung zwischen Arbeitszeit und Freizeit nicht beachtet und nach Dienstende pädagogische Gespräche mit Jugendlichen geführt zu haben. Mit Schreiben vom 24. Juni 2013 erteilte der Beklagte dem Kläger unter Androhung einer Kündigung im Wiederholungsfall eine Abmahnung, weil er auf dem Dienstrechner pornographische Seiten im Internet aufgerufen habe.
In der Jugendhilfeeinrichtung des Beklagten betreute der Kläger ua. die 1997 geborene Teilnehmerin L A.. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger die Grenzen der professionellen Nähe-Distanz-Beziehung zur Zeugin A. gewahrt hat. Nachdem die Teilnehmerin die Maßnahme - aus anderen Gründen - am 24. September 2014 abgebrochen hatte, begleitete der sich zu diesem Zeitpunkt in Urlaub befindliche Kläger sie zu Gesprächen beim Jugendamt und Vorstellungsgesprächen für eine neue Einrichtung. Gegenüber dem Jugendamt gaben die Eltern der Zeugin A. darüber hinaus an, der Kläger habe ihrer Tochter - mit elterlichem Einverständnis - zumindest für einige Tage dergestalt Unterkunft gewährt, dass er gemeinsam mit ihr in seinem privaten PKW übernachtet habe.
Am 29. September 2014 informierte das Jugendamt den Beklagten über das Verhalten des Klägers. In einem Gespräch am 30. September 2014 hielt der Beklagte dem Kläger den vom Jugendamt mitgeteilten Sachverhalt vor und beanstandete ein Agieren weit außerhalb des professionellen Rahmens. Der Kläger erklärte, es gehe den Beklagten nichts an, was er in seiner Freizeit mit ehemaligen Teilnehmern mache. Weiter äußerte er ua., es habe keine sexuellen Handlungen gegeben, er habe der Zeugin A. in ihrer Obdachlosigkeit nur ein Dach über dem Kopf geliefert und nur helfen wollen, er sei grundsätzlich "so gestrickt". Der Beklagte suspendierte den Kläger bis auf weiteres vom Dienst.
Der Beklagte beantragte mit Schreiben vom 08. Oktober 2014 (Bl. 52 ff. d. A.) beim zuständigen Integrationsamt des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung die ...