Entscheidungsstichwort (Thema)
Ordentliche Kündigung in der Probezeit. Anforderungen an Betriebsratsanhörung bei Kündigung innerhalb der ersten sechs Monate. Keine Anhörung der Schwerbehindertenvertretung vor Entscheidung über Gleichstellung. Auslegung des § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat alle Gründe für die Kündigung angeben, auch wenn der betroffene Arbeitnehmer noch keinen Kündigungsschutz nach KSchG genießt. Auch innerhalb der sechsmonatigen Wartezeit sollen die Interessen beider Vertragsparteien berücksichtigt werden.
2. Der Arbeitgeber ist vor der Entscheidung über den Gleichstellungsantrag nicht verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung zur Kündigung anzuhören. Dies ergibt sich aus der Auslegung des § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 1 Sätze 2-3; SGB IX § 151 Abs. 1-2, § 173 Abs. 3, § 178 Abs. 2 Sätze 1, 3, § 2 Abs. 3; ZPO § 97 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Ludwigshafen (Entscheidung vom 12.04.2021; Aktenzeichen 2 Ca 1945/20) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 12. April 2021, Az. 2 Ca 1945/20, wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung in der Probezeit.
Der 1975 geborene, geschiedene und gegenüber zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger war seit dem 1. Juli 2020 bei der Beklagten zu einem monatlichen Bruttoentgelt von 2.832,00 € zuzüglich Schichtzulage 10 % (283,20 €, Entgeltabrechnung für November 2020 Bl. 20 ff. d. A.) als Chemiebetriebsarbeiter beschäftigt. Dem bis zum 30. Juni 2024 befristeten Arbeitsverhältnis lag ein schriftlicher Arbeitsvertrag vom 1. April 2020 (Bl. 3 ff. d. A.) zugrunde. Nach der Einleitung des Arbeitsvertrages gelten die ersten sechs Monate als Probezeit. Ziff. 6 Abs. 2 des Arbeitsvertrages bestimmt, dass das Arbeitsverhältnis "von beiden Seiten vorzeitig durch ordentliche Kündigung während der Probezeit unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von 2 Wochen, nach Ablauf der Probezeit unter Einhaltung der tariflichen Kündigungsfristen gekündigt werden" kann. Zwischen den Parteien war vereinbart, dass der Kläger berufsbegleitend eine Ausbildung zum Chemikanten absolviert.
Die Beklagte hörte den Betriebsrat mit Schreiben vom 9. Dezember 2020 (Bl. 63 ff. d. A.) und Nachtrag vom 11. Dezember 2020 (Bl. 69 f. d. A.) zu der beabsichtigten Kündigung des Klägers an. Der Betriebsrat erhob Bedenken gegen die beabsichtigte Kündigung mit Schreiben vom 16. Dezember 2020 (Bl. 61 f. d. A.).
Der Kläger, der seit dem 7. Mai 2016 einen Grad der Behinderung von 40 hat, beantragte mit Schreiben vom 10. Dezember 2020 die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen. Zuvor hatte er bereits am 14. Februar 2017 einen Gleichstellungsantrag gestellt, dem durch Bescheid vom 12. Mai 2017 nicht stattgegeben worden war.
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2020 (Bl. 11 d. A.), dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger ordentlich im Rahmen der Probezeit zum 31. Dezember 2020. Gegen diese Kündigung wendete sich der Kläger mit seiner am 21. Dezember 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage.
Durch Bescheid der Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit S. vom 14. Januar 2021 (Bl. 34 d. A.) wurde der Kläger gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Die Gleichstellung wurde mit dem Tag des Eingangs des Antrags (10. Dezember 2020) wirksam.
Der Kläger war der Ansicht,
der Betriebsrat sei zur Kündigung nicht ordnungsgemäß angehört worden.
Im Übrigen genieße er Sonderkündigungsschutz nach dem Sozialgesetzbuch IX. Die Schwerbehindertenvertretung hätte vor der Kündigung angehört werden müssen.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 17. Dezember 2020, zugegangen am 17. Dezember 2020, nicht aufgelöst wird, sondern unverändert fortbesteht.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage durch Urteil vom 12. April 2021 abgewiesen. Es hat - zusammengefasst - zur Begründung ausgeführt, das KSchG finde aufgrund der kurzen Beschäftigungszeit des Klägers gemäß § 1 Abs. 1 KSchG keine Anwendung. Die Kündigung sei nicht wegen fehlerhafter Beteiligung des Betriebsrats gemäß § 102 BetrVG unwirksam. Die Kündigung sei auch nicht wegen fehlender Beteiligung des Integrationsamtes nach § 168 SGB IX unwirksam, da nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX die genannte Vorschrift auf eine Kündigung innerhalb der ersten sechs Monate keine Anwendung finde. Die Kündigung sei auch nicht wegen fehlender Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 S. 2 SGB IX unwirksam. Zwar sei diese Vorschrift auch auf Probezeitkündigungen anwendbar. Allerdings sei sie nicht auf rückwirkende Gleichstellungen von behinderten Menschen mit schwerbehinderten Menschen anzuwenden, da § 178 Abs. 2 SGB IX k...