Entscheidungsstichwort (Thema)
Zukunftsprognose und Maß der betrieblichen Beeinträchtigung bei Kündigung wegen Krankheit. Darlegungslast des Arbeitnehmers für künftige Genesung. Darlegungslast des Arbeitgebers bei nicht angebotenem betrieblichem Eingliederungsmanagement. Unverhältnismäßigkeit der Kündigung bei versäumter BEM
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung ist zweistufig zu prüfen: in der ersten Stufe ist eine Zukunftsprognose zu erstellen, in der zweiten Stufe ist diese mit dem Grad der Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen abzuwägen.
2. Eine Kündigung wegen Krankheit ist unverhältnismäßig, wenn der Arbeitgeber ein BEM unterlässt.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2, 2 S. 4; SGB IX § 167 Abs. 2, § 168; ZPO § 138 Abs. 2, § 97 Abs. 1; KSchG § 4 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 19.02.2020; Aktenzeichen 4 Ca 2571/19) |
Tenor
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen auf krankheitsbedingte Gründe gestützten Kündigung.
Der 1964 geborene, ledige Kläger, dem ein Grad der Behinderung von 50 zuerkannt ist, ist bei der Beklagten seit dem 5. Mai 1987 auf der Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrags vom gleichen Tag (Bl. 4 ff. d. A) als Produktionsmitarbeiter in A-Stadt beschäftigt. Er bezieht zuletzt eine Bruttomonatsvergütung von durchschnittlich 3.900,00 Euro.
Die Beklagte betreibt ein Maschinenbauunternehmen mit weltweit etwa 6.000 Arbeitnehmern. Im Betrieb A-Stadt beschäftigt die Beklagte weit mehr als zehn Arbeitnehmer mit Ausnahme der Auszubildenden. Es sind ein Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung gewählt.
Seit dem Jahr 2014 hatte der Kläger folgende krankheitsbedingten Fehlzeiten an von der Beklagten im Einzelnen nach Beginn und Ende dargestellten Daten (vgl. Bl. 37 ff. d. A):
2014: |
56 Arbeitstage |
2015: |
61,71 Arbeitstage |
2016: |
44 Arbeitstage |
2017: |
52 Arbeitstage |
2018: |
92,68 Arbeitstage |
2019 (bis 19. Juni 2019): |
66 Arbeitstage |
Die Fehltage des Klägers beruhten überwiegend auf Kurzerkrankungen, bei denen es sich nicht um Folgeerkrankungen handelte. Der Kläger leidet an Diabetes mellitus und erkrankte in den Jahren von 2017 bis 2019 zudem an verschiedenen Krankheiten von Rückenbeschwerden bis zu Infektionen der oberen Atemwege oder Bronchitis (vgl. Diagnosen gemäß Mitteilung der Krankenkasse des Klägers vom 30. Dezember 2019, Bl. 76 d. A). Im Jahr 2018 fehlte der Kläger an 29 Arbeitstagen wegen einer 30-tägigen Rehabilitationsmaßnahme aufgrund seiner Diabetes-Erkrankung. Ob die Fehltage vom 21. Juni bis 18. Juli 2017 und vom 04. Oktober bis 14. Oktober 2017 auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen sind, ist zwischen den Parteien streitig. Die Beklagte leistete an den Kläger im Zeitraum vom 01. Januar 2014 bis 19. Juni 2019 Entgeltfortzahlung in Höhe von insgesamt 71.305,74 Euro brutto wie folgt:
2014: |
10.270,28 Euro |
2015: |
11.438,35 Euro |
2016: |
8.435,56 Euro |
2017: |
9.920,85 Euro |
2018: |
17.846,38 Euro |
2019 |
(bis 19. Juni): 13.394,33 Euro |
Seit Juli 2015 wird der Kläger nach vorangegangenen Gesprächen infolge seiner gesundheitsbedingten Einschränkungen am Arbeitsplatz "Entstücken Nislide Salz"(ohne Besteigung der Öfen) in Wechselschicht mit Nachtschicht beschäftigt. Nach dem Reha-Entlassungsbericht vom 26. Juli 2018 konnte der Kläger noch als Produktionsmitarbeiter mit mehr als 6 Stunden täglicher Arbeitszeit und mehr mit mittelschweren Tätigkeiten überwiegend im Stehen, im Gehen und im Sitzen eingesetzt werden, in Tagschicht, in Früh- und Spätschicht und in Nachtschicht. Zuletzt kann der Kläger aus gesundheitlichen Gründen keine Tätigkeit mit überwiegendem Sitzen mehr verrichten. Der Arbeitsplatz, den der Kläger seit 2015 innehat, erfüllt das Leistungsprofil aus dem Reha-Entlassungsbericht vom 26. Juli 2018 und verlangt kein überwiegendes Sitzen. Der Kläger nutzt zuletzt an seinem Arbeitsplatz - wie andere Mitarbeiter mit entsprechendem Bedarf auch - einen speziell angepassten Gehörschutz, sowie für ihn angefertigte Sicherheitsschuhe und die betriebsübliche Handcreme. Er trägt von ihm privat angeschaffte Kompressionsstrümpfe. Im Betrieb werden Hebekräne verwendet, da Gewichte von über 100 kg zu bewegen sind.
Die Beklagte lud den Kläger mit verschiedenen Einladungen im Zeitraum von Ende 2015 bis Mitte 2018 zu Gesprächen über ein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) ein. Der Kläger, der in Abrede stellt, alle Einladungen erhalten zu haben, nahm keine Einladung wahr. Mit Schreiben vom 20. August 2018 (Bl. 50 - 52 ff. d. A) bot die Beklagte dem Kläger ein Gespräch im Rahmen des bEM an, auf das der Kläger nicht reagierte. Wegen der Einzelheiten des Anschreibens nebst Anlagen wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Am 07. Januar 2019 beantragte der Kläger gemäß der im Betrieb geltenden Betriebsvereinbarung BV 141 Schichtbetrieb/ 7 Tage...