Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifvertrag. Differenzierungsklausel. Stichtagsregelung. Inbezugnahmeklausel. Rückwirkung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Inbezugnahmeklausel in einem Arbeitsvertrag, die auf einen Haustarifvertrag in seiner jeweiligen Form und ergänzend auf den BAT und den diesen ergänzende Tarifverträge verweist, ist dahin auszulegen, dass er auch weitere Haustarifverträge in Bezug nimmt, auch wenn deren Inhalt bislang nicht im Haustarifvertrag, sondern aufgrund ergänzender Inbezugnahme des BAT dort geregelt war.
2. Ausnahmsweise können durch rückwirkende Inkraftsetzung eines Tarifvertrages auch vertraglich begründete Ansprüche außer Kraft gesetzt werden.
3. Die Unwirksamkeit einer Stichtagsregelung führt nicht zwingend zur Gesamtunwirksamkeit einer tariflichen Differenzierungsklausel.
4. Eine „einfache Differenzierungsklausel” in Form einer jährlichen Sonderzahlung, die unterhalb eines Bruttomonatsgehalt liegt, ist in der Regel wirksam, wenn sie der Höhe nach bezogen auf das Jahr nicht mehr als 5 % der Bruttomonatsvergütung beträgt.
Normenkette
TVG § 3 I, § 4 I
Verfahrensgang
ArbG Kiel (Urteil vom 16.09.2010; Aktenzeichen 6 Ca 2560 a/09) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten und unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kiel vom 16.09.2010 – 5 Ca 2560 a/09 – geändert und die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin für die Jahre 2007, 2008 und 2009 ein (weiterer) Anspruch auf Sonderzahlungen zusteht.
Die Klägerin ist seit dem 01.01.1994 als Krankenschwester zu einem Bruttomonatsgehalt von durchschnittlich EUR 2.930,00 bei der Beklagten beschäftigt. Sie ist weder in der Gewerkschaft ver.di noch in der Gewerkschaft NGG organisiert. § 2 des schriftlichen Arbeitsvertrags der Parteien (Bl. 81 d. A.) lautet:
„Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem zwischen der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr und dem Arbeitgeber abgeschlossenen Tarifvertrag vom 01.07.1976 in der jeweils gültigen Fassung i. V. m. dem Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) vom 23.02.1961 und den diesen ergänzenden und ändernden Tarifverträgen…”.
Im August 1998 wurde die D. Holding AG, die Konzernobergesellschaft der Beklagten, gegründet und im Handelsregister eingetragen. Diese schloss zum 01.01.1999 mit der Gewerkschaft ÖTV einen Manteltarifvertrag (Bl. 251 – 257 d. A.). Außerdem schloss die D. Holding AG in den und für die folgenden Jahre mehrere Tarifverträge, die Regelungen über Sonderzahlungen trafen. Auf Grundlage dieser Tarifverträge erhielt die Klägerin im Jahr 2006, wie in den Jahren zuvor, 100 % ihres Bruttomonatsgehalts als Jahressonderzahlung.
Am 27.03.2007 schloss die D. Holding AG mit den Gewerkschaften NGG und ver.di einen Tarifvertrag über die Gewährung einer jährlichen Sonderzahlung für die Jahre 2007 bis 2011, der für Gewerkschaftsmitglieder höhere Beträge vorsah als für Nichtgewerkschaftsmitglieder. Gegen diese aus ihrer Sicht unzulässige Differenzierung erhob die Klägerin Klage auf Nachzahlung der Differenzen für 2007 bis 2009. Diese wies das BAG mit Urteil vom 18.11.2009 – 4 AZR 491/08 – ab. Zur Begründung führte das BAG im Wesentlichen aus, da die Beklagte nicht Partei des Tarifvertrags sei, sei sie nicht gemäß § 3 Abs. 1 TVG an diesen gebunden, so dass der Tarifvertrag auch nicht aufgrund der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung finde. Die D. Holding AG habe nicht stellvertretend für die Beklagte gehandelt.
Am 02.03.2010 schloss die D. Holding AG mit den Gewerkschaften ver.di und NGG einen Tarifvertrag über die Gewährung einer jährlichen Sonderzahlung (TV Sonderzahlung), der mit Ausnahme des Rubrums textidentisch mit dem Tarifvertrag vom 27.03.2007 ist. Die D. Holding AG handelte bei Abschluss dieses Tarifvertrags ausdrücklich auch im Namen und mit Vollmacht u. a. für die Beklagte. Nach § 7 des TV Sonderzahlung tritt dieser rückwirkend zum 01.01.2007 in Kraft.
Nach dem TV Sonderzahlung hängt die Höhe der jährlichen Sonderzahlung vom Konzernergebnis vor Zinsen, Abschreibung und Steuern (EBITDA) ab. Jedem EBITDA ist ein bestimmter Faktor zugeordnet, mit dem das Bruttomonatsgehalt multipliziert wird und der dadurch die Höhe der Sonderzahlung bestimmt. § 5 Nr. 5 TV Sonderzahlung regelt für das Jahr 2007, dass Mitgliedern der Gewerkschaften ver.di und NGG ein höherer Faktor zugeordnet wird, als den nichtorganisierten Mitgliedern. § 5 Nr. 8 TV Sonderzahlung regelt Vergleichbares für das Jahr 2008.
Nach § 5 Nr. 12 TV Sonderzahlung erhalten Mitglieder der Gewerkschaften ver.di und NGG unabhängig von einer möglichen höheren Zahlung nach den Regelungen der Ziffern 4 bis 9 in den Jahren 2007 bis 2009 mindestens eine garantierte Sonderzahlung in Abhängigkeit zu der am 31.12.2006 jeweils gültigen tariflichen Regelung nach einer im Tarifvertrag genannten Tabelle. § 5 Nr. 13 TV Sonderzahlung enthält eine Stichtagsreg...