Entscheidungsstichwort (Thema)
Unverhältnismäßige außerordentliche Kündigung einer ambulanten Pflegekraft wegen Gefährdung des Straßenverkehrs während einer Dienstfahrt
Leitsatz (amtlich)
Eine während einer Dienstfahrt begangene Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315 c Abs. 1 Nr. 1a StGB (Missachtung der Vorfahrt) kann grundsätzlich geeignet sein, einen wichtigen Grund zum Ausspruch einer fristlosen Kündigung darzustellen (hier bei der Interessenabwägung verneint). Dies gilt nicht nur für Kraftfahrer, sondern auch für Arbeitnehmer, die ihre Haupttätigkeit nicht ohne Firmenfahrzeug ausüben können (hier: ambulanter Pflegedienst).
Leitsatz (redaktionell)
1. Betrifft die der Arbeitnehmerin zur Last gelegte Pflichtverletzung eindeutig den Leistungsbereich (schlechte oder verkehrswidrige Dienstfahrt) und nicht eine strafbare Handlung, die sich unmittelbar gegen die Arbeitgeberin richtet (Diebstahl, Unterschlagung, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Beleidigung), kann eine solche Schlechtleistung, sofern sie nicht bereits den Grad einer beharrlichen Arbeitsverweigerung angenommen hat, in aller Regel keinen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen sondern allenfalls eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen; eine fristlose Kündigung kann immer nur das letzte Mittel sein, um auf Pflichtverletzungen der Arbeitnehmerin zu antworten.
2. Legt die Arbeitgeberin im Einzelfall keine Umstände dar, warum es ihr ausnahmsweise unzumutbar gewesen sein soll, die Arbeitnehmerin noch gut einen Monat bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist der zuvor von der Arbeitnehmerin ausgesprochenen Eigenkündigung weiter zu beschäftigen, kommt bei Schlechtleistung nur der Regelfall einer ordentlichen Kündigung in Betracht.
3. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten der Arbeitnehmerin, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ihr künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann; einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 BGB und § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes demnach nur dann nicht, wenn bereits im Vorhinein erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme der Arbeitgeberin nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit auch für die Arbeitnehmerin erkennbar offensichtlich ausgeschlossen ist.
4. Eine Kündigung ist nicht Strafe für begangene Vertragsverletzungen sondern nur gerechtfertigt, wenn die Arbeitgeberin auch künftig mit gleichgearteten Vertragsverletzungen rechnen muss und es ihr deshalb nicht zumutbar ist, das Arbeitsverhältnis mit der Arbeitnehmerin fortzusetzen; das gilt insbesondere für den Fall, dass ein für die Kündigung herangezogener Vorfahrtsverstoß der Arbeitnehmerin weder zu einem Verkehrsunfall noch zu einem Ermittlungsverfahren geführt hat, in das die Arbeitgeberin als Fahrzeughalterin hätte verwickelt sein können, noch zu einem Fahrverbot oder Führerscheinentzug zulasten der Arbeitnehmerin noch zu einem Sachschaden am Dienstfahrzeug oder einer irgendwie gearteten Beeinträchtigung des Ansehens der Arbeitgeberin.
Normenkette
BGB §§ 626, 616; StGB § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a; BGB § 314 Abs. 2, § 323 Abs. 2, § 626 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Lübeck (Entscheidung vom 29.04.2015; Aktenzeichen 5 Ca 244/15) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 29.04.2015, Az. 5 Sa 244/15, wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Wesentlichen über die Rechtswirksamkeit einer fristlosen Kündigung, nachdem die Klägerin ihr Arbeitsverhältnis selbst ordentlich gekündigt hatte, sowie um daraus resultierende Verzugslohnansprüche.
Die 31-jährige Klägerin ist seit 01.11.2013 bei der Beklagten, einem ambulanten Pflegedienst, als Pflegekraft zu einem Bruttomonatsgehalt von 1.501,56 brutto zzgl. Fahrgeld, Fehlgeldentschädigung und Sonntagszuschlag (§ 5 des Arbeitsvertrages, Bl. 4 ff. d. A.) beschäftigt. Der der Klägerin zur Verfügung gestellte Dienstwagen ist mit dem Slogan der Beklagten "Kundenfreundlicher Pflegedienst 2014" beschriftet.
Mit Schreiben vom 19.01.2015 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 28.02.2015. Vom 19.01. bis zum 03.02.2015 war die Klägerin arbeitsunfähig krank. Das Kündigungsschreiben sowie die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gingen der Beklagten am 19.01.2015 zu. Mit Schreiben vom 22.01.2015 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgerecht. Für Januar 2015 erteilte die Beklagte der Klägerin eine Gehaltsabrechnung mit folgenden Bezügen (Bl. 15 d. A.):
Festgehalt |
1.259,37 |
Sonntagszuschlag |
28,31 |
Fahrgeld pausch. Verst. |
13,21 |
Fehlgeldentschädigung |
6,71 |
Minusstunden (Std. 104,00 9,00) |
936,00 |
Urlaubsabge... |