Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsvereinbarung. Auslegung. Wortlaut. Redaktionsversehen

 

Leitsatz (amtlich)

Voraussetzung für die Annahme eines im Rahmen der Auslegung beachtlichen Redaktionsversehens ist, dass sich das Redaktionsversehen zweifelsfrei – auch für die der Betriebsvereinbarung unterworfenen Arbeitnehmer – aus dem Gesamtzusammenhang der Betriebsvereinbarung ergibt, etwa aufgrund des Redaktionsversehens nunmehr in sich widersprüchliche Regelungen.

 

Normenkette

BetrVG § 77 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Lübeck (Urteil vom 29.10.2003; Aktenzeichen 4 Ca 2348 b/03)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 29.10.2003, Az. 4 Ca 2348 b/03, wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien führen einen Kündigungsrechtsstreit.

Die 51-jährige Klägerin wurde bei der Beklagten mit Wirkung zum 01.03.1978 als „Reinmachefrau” eingestellt (Bl. 6 d. GA.). Ab dem 01.03.1980 wird die Klägerin durch entsprechende Vertragsänderung als „Stationsfrau” beschäftigt. Ihr Bruttogehalt beträgt z. Zt. Ca. EUR 1.800,–.

Die Beklagte beschloss, zur Kostenreduzierung den Reinigungsbereich zum 01.06.2003 an ein externes Unternehmen auszugliedern und allen Reinigungskräften zu kündigen. Tatsächlich übertrug die Beklagte die Reinigungsaufgaben mit Wirkung ab dem 01.08.2003 an ein Fremdunternehmen (Bl. 26 ff. d. GA.). Nach Anhörung des Betriebsrates am 08.05.2003 (Bl. 32 – 34 d. GA.), der der Kündigungsabsicht widersprochen hatte (Bl. 10 d.GA.), sowie erteilter Zustimmung des Integrationsamtes (Bl. 37 ff. d. GA.) kündigte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 27.06.2003 zum 31.12.2003 (Bl. 8 d. GA.).

Parallel dazu schlossen die Beklagte und deren Betriebsrat am 15.05.2003 eine Betriebsvereinbarung nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 über Kurzarbeit (im Folgenden: BV ‚Kurzarbeit’), in der – soweit vorliegend von Belang – Folgendes geregelt war (Bl. 11 – 12 d. GA.). Der von der Kurzarbeit betroffene Personenkreis war in einer Anlage I zur BV ‚Kurzarbeit’ festgelegt (Ziff. 3 BV), die Kurzarbeit fand in der Zeit vom 01.07.2003 bis 31.12.2003 statt (Ziff. 5 BV) und während dieser Periode waren für die Mitarbeiter der von der Kurzarbeit betroffenen Bereiche die betriebsbedingte Kündigung und die betriebsbedingte Änderungskündigung ausgeschlossen (Ziff. 11 BV ‚Kurzarbeit’). In der unter Ziff. 2 in Bezug genommenen Anlage I (Bl. 13 d. GA.) sind unter dem Oberbegriff „Öffentlichkeitsarbeit” alle dort beschäftigten Angestellten und Arbeiter u. a. aus den Bereichen „Küche”, „Reinigung” sowie „Hotellerie” von der Kurzarbeit betroffen.

Gegen die ihr am 01.07.2003 zugegangene Kündigung vom 27.06.2003 wendet sich die Klägerin im vorliegenden Kündigungsschutzverfahren.

Erstinstanzlich hat die Klägerin vorgetragen, die Kündigung verstoße gegen das Kündigungsverbot in der BV ‚Kurzarbeit’, sei sozialwidrig, weil ihr Arbeitplatz in der Küche und im Essenssaal nicht weggefallen sei und sie im Übrigen gegenüber anderen vergleichbaren Mitarbeitern sozial schutzwürdiger sei. Sie hat die Korrektheit der Betriebsratsanhörung bestritten.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands, wie er in der ersten Instanz vorgelegen hat, wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen, § 69 Abs. 2 ArbGG.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die Kündigung verstoße gegen das Kündigungsverbot in § 11 BV ‚Kurzarbeit’. Dabei sei unerheblich, dass die Aufführung des Reinigungsbereichs in der Anlage 1 zur BV ‚Kurzarbeit’ versehentlich erfolgt sei und nach dem ausdrücklichen Willen der Betriebsparteien der Reinigungsbereich nicht von der Kurzarbeit betroffen sein sollte. Bei der Auslegung einer Betriebsvereinbarung könne nur der Wille der Betriebsparteien berücksichtigt werden, der auch zum Ausdruck gekommen sei. Hier indessen sei nach dem eindeutigen Wortlaut der BV ‚Kurzarbeit’ der Reinigungsbereich ebenfalls von der Kurzarbeit betroffen.

Gegen dieses ihr am 01.12.2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 03.12.2003 Berufung eingelegt und diese am 29.01.2004 begründet.

Die Beklagte wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Das Arbeitsgericht habe Ziff. 11 BV ‚Kurzarbeit’ fehlerhaft ausgelegt und sei von falschen Auslegungsgrundsätzen ausgegangen. Zu Unrecht habe es angenommen, dass bei der Auslegung von Gesetzen und Tarifverträgen der Wortlaut eine nicht zu überwindende Grenze darstelle. Bei der Aufnahme des Reinigungsbereichs in der Anlage zur BV ‚Kurzarbeit’ habe es sich um ein Redaktionsversehen gehandelt, daher sei es auch zulässig gewesen, auf außerhalb der eigentlichen Regelung liegende Erkenntnisquellen zurückzugreifen. Dieser Grundsatz müsse auch bei der Auslegung der BV ‚Kurzarbeit’ gelten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck (Aktenzeichen 4 Ca 2348 b/03) vom 29.10.2003 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteid...

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