Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiskraft des gerichtlichen Eingangsstempels. öffentliche Urkunde. Gegenbeweis. Nachtbriefkasten des Gerichts. Versäumung der Berufungsfrist

 

Leitsatz (amtlich)

Der Posteingangsstempel der Briefannahmestelle des Gerichts, mit dem die dem Nachtbriefkästen entnommene Gerichtspost versehen wird, ist eine öffentliche Urkunde i.S.d. § 418 Abs. 1 ZPO. Sie begründet den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen (Tag des Posteingangs bei Gericht) und kann nur durch vollen Gegenbeweis entkräftet werden. Bloße Glaubhaftmachung, z. B. durch eidesstattliche Versicherung (§ 294 ZPO), reicht grundsätzlich nicht aus. Der Gegenbeweis ist nicht schon damit erbracht, daß die Möglichkeit der Unrichtigkeit des Eingangsstempels dargetan wird; es muß umgekehrt die Möglichkeit der Richtigkeit ausgeschlossen werden.

Voraussetzung der Beweiserhebung zum Zweck des Gegenbeweises ist substantiiertes Bestreiten, d. h. es muß ein Geschehensablauf dargelegt werden, der eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Unrichtigkeit der durch den Stempel bezeugten Tatsachen begründet. Der allgemeine Hinweis darauf, daß Menschen bei ihrer Arbeit immer einmal Fehler unterlaufen können, reicht hierfür jedenfalls nicht aus.

 

Normenkette

ArbGG § 66 Abs. 1, § 64 Abs. 6; ZPO §§ 516, 519b Abs. 1, § 418 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

ArbG Neumünster (Urteil vom 23.02.1994; Aktenzeichen 3a Ca 838/93)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Neumünster vom 23.02.1994 – Az.: 3a Ca 838/93 – wird auf seine Kosten als unzulässig verworfen.

 

Tatbestand

Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht Neumünster geklagt mit dem Antrag,

festzustellen, daß er ab dem 13.08.1991 nach der Vergütungsgruppe IVb BAT zu vergüten ist.

Hierauf hat das Arbeitsgericht durch Urteil vom 23.02.1994 für Recht erkannt:

  1. Die Klage wird abgewiesen.
  2. Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger auferlegt.
  3. Der Streitwert beträgt 14.400,– DM.

Gegen dieses ihm am 25.03.1994 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 25.04.1994 Berufung eingelegt. Dieser Schriftsatz trägt den Eingangs Stempel der gemeinsamen Briefannahmestelle 1 mit Eingangsdatum 26.04.1994, versehen mit dem Handzeichen des Bediensteten, der den Schriftsatz abgestempelt hat. Der Nachtbriefkasten ist auch Notfristkasten für das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein.

Daneben befindet sich auf der Berufungsschrift ein Eingangsstempel des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein, ebenfalls mit Datum 26.04.1994 und unterzeichnet von einer Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Gerichts.

Auf Hinweis des Gerichts, daß die Berufung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist des § 66 Abs. 1 ArbGG eingelegt worden und beabsichtigt sei, über die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß der Kammer zu entscheiden (§ 519 b Abs. 2 ZPO i. V. m. § 66 Abs. 2 ArbGG), hat der Kläger eine eidesstattliche Versicherung des Zeugen Rechtsanwalt K. vom 10.05.1994 eingereicht, auf dessen Inhalt (Bl. 198 d. A.) Bezug genommen wird.

Der Kläger-Vertreter trägt vor: Der Zeuge K. habe am 25.04.1994 gegen 20.00 Uhr den Berufungsschriftsatz in den gemeinsamen Nachtbriefkasten bei dem Amtsgericht in Kiel eingeworfen. Warum der Schriftsatz mit einem Eingangs Stempel vom 26.04.1994 versehen worden sei, wisse er nicht. Er wisse nur, daß das in der Vergangenheit häufiger geschehen sei, wenn Schriftsätze in den Nachtbriefkasten geworfen worden seien. So sei in einem Verfahren vor dem Landgericht Kiel mit dem Aktenzeichen 4 O 406/91 der Schriftsatz mit einem falschen Eingangsstempel versehen worden. In jenem Fall sei aufgrund der Glaubhaftmachung der Prozeßbevollmächtigten des Klägers die Rechtzeitigkeit des mit dem Schriftsatz eingelegten Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil angenommen worden.

Es könne nicht sein, daß das Risiko eines technischen Versagens in der Justiz der Anwalt oder der Kläger tragen müsse. Der Berufungsschriftsatz sei am 25.04.1994 von der Kanzleiangestellten, der Zeugin B., gefertigt und am selben Tage dem Zeugen Rechtsanwalt K. zur Unterschrift vorgelegt worden. Das Gericht habe über die streitige Frage der Fristwahrung vollen Beweis zu erheben, wenn es nicht bereits die eidesstattliche Versicherung des Zeugen K. für ausreichend erachte. Beweiserschwerungen für den Nachweis der Rechtzeitigkeit der Berufung seien nicht gerechtfertigt. Dies gelte umsomehr, als aufgrund der vom Gericht eingeholten amtlichen Auskunft feststehe, daß zum fraglichen Zeitpunkt der Mechanismus des Nachtbriefkastens nicht ordnungsgemäß funktioniert habe.

Der Kläger beantragt,

festzustellen, daß er ab dem 13.08.1991 nach der Vergütungsgruppe IVb BAT zu vergüten ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte bestreitet, daß es bei dem gemeinsamen Nachtbriefkasten des Amtsgerichts/Landesarbeitsgerichts möglich sei, daß ein Schriftsatz, der abends um 20.00 Uhr eingeworfen werde, erst für den nächsten Tag gestempelt werde. Gerade beim Nachtbriefkaste...

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