Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen. Mindestschwere einer Pflichtverletzung bei einer außerordentlichen Kündigung ohne vorherige Abmahnung
Leitsatz (redaktionell)
Vor Ausspruch einer fristlosen Kündigung durch den Arbeitgeber nach § 626 Abs. 1 BGB ist zu prüfen, ob die Pflichtverletzung auf einem steuerbaren Verhalten des Arbeitnehmers beruht. Soweit dies bejaht werden kann, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Eine ernstliche Drohung des Arbeitnehmers mit Gefahren für Leib oder Leben von Vorgesetzten oder Arbeitskollegen, für die kein allgemeiner Rechtfertigungsgrund besteht, ist "an sich" als wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB in Betracht zu ziehen.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Lübeck (Entscheidung vom 30.11.2022; Aktenzeichen 3 Ca 1157/22) |
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 30.11.2022, Az.: 3 Ca 1157/22, wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung vom 11.07.2022 und einer hilfsweise ordentlichen Kündigung vom 14.07.2022 zum 31.10.2022 aus verhaltensbedingten Gründen.
Der jetzt 29-jährige Kläger ist bei der Beklagten seit 01.06.2019 als Industriemechaniker zu einem Monatsgehalt von 3.666,54 € brutto beschäftigt.
Am 01.06.2022 war der Kläger zusammen mit der Arbeitnehmerin A. am Probierstand eingesetzt. Der Mitarbeiter G. befand sich ebenfalls am Probierstand. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger der Zeugin A. gegen 9:20 Uhr ein scharfes Filetiermesser mit einer Klingenlänge von 20 cm mit einem Abstand von 10 bis 20 cm an den Hals hielt und damit Leib und Leben der Mitarbeiterin im Sinne einer akuten, ernsthaften Gefährdung bedrohte. Der Kläger hatte vom 07.06.2022 bis 17.06.2022 Urlaub.
Nach Gesprächen mit der Zeugin A. (15.06.2022) sowie dem ebenfalls anwesenden Zeugen G. (27.06.2022) sowie persönlichen Anhörungen des Klägers vom 20.06. und 27.06.2022 stellte die Beklagte den Kläger am 28.06.2022 von der Arbeit frei und erteilte ihm ein Hausverbot.
Am 05.07.2022 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Verdachtskündigung u.a. wie folgt an (Bl. 145 ff. d.A.):
"1. ... Anlass für dieses Gespräch war ein Vorfall vom Mittwoch, den 01.06.2022 beim Probierstand, welcher zum Arbeitsbereich von Frau A. und Herrn B. gehört. Nach der Erläuterung von Frau A. kam es an diesem Morgen zu einem Vorfall während der Arbeit beim besagten Probierstand. Der Vorfall ereignete sich um ca. 09:20 Uhr, kurz nach der Frühstückspause. Frau A. erläuterte, dass sie selbst und Herr B. zusammen gearbeitet hätten. Herr N.-P. G. hätte sich in unmittelbarer Sichtweite an einer Nachbarmaschine aufgehalten. An diesem Tag wurde eine Heringsanlage erprobt. Für diese Arbeit werden von den Mitarbeitern auch scharfe Filetiermesser (Fotos siehe Anlage) eingesetzt.
Frau A. und Herr B. saßen leicht versetzt seitlich, Schulter an Schulter nebeneinander. Frau A. saß auf dem Rand einer Palette, Herr B. saß rechts von ihr auf einem Stuhl.
... Frau A. hat dann unmittelbar festgestellt, dass Herr B. ihr ein Fischfiletiermesser (Länge ca. 20 cm) auf Höhe des Halses hielt. Den Abstand zum Hals beschreibt Frau A. als sehr nah, ca. 10 bis 20 cm nah am Hals. ... Frau A. hat sich sehr über die Situation erschrocken, sich nicht bewegt und reflexartig gelacht. Daraufhin habe sie Herrn B. gesagt, dass er das Messer wegnehmen solle. Sie beschreibt, dass sie mit der Situation überfordert war. Herr B. habe dann das Messer beiseite genommen, auf die Situation aber nicht weiter reagiert. Daraufhin ist Frau A. aufgestanden und ist zu Herrn G. gegangen. Als Herr B. außer Hörweite war, hat Frau A. Herrn G. gefragt, ob dieser die Situation mitbekommen habe. Herr G. bestätigte daraufhin Frau A., dass er den Vorfall gesehen habe.
... Drei Arbeitstage später, am Dienstag, den 07.06.2022 zog Frau A. die Vorarbeiterin Frau S. ins Vertrauen und bat sie um absolutes Stillschweigen. Da Frau A. der Vorfall weiter stark beschäftigte, sprach sie am Montag, den 13.06.2022 die Betriebsratsmitglieder Herrn Sch. und Herrn St. hierzu an. Am Dienstag, den 14.06.2022 informierte der Betriebsrat Herrn S. und Herrn Sp. (Stellvertretende Produktionsleitung).
Als weiteres Vorgehen wurde am 15.06.2022 unmittelbar nach dem Gespräch mit Frau A. beschlossen, im Sinne einer Sachverhaltsaufklärung die Sicht von Herrn B. anzuhören. Da sich Herr B. zu diesem Zeitpunkt im Urlaub befand, sollte das Gespräch am Montag, den 20.06.2022 folgen.
2. Am 20.06.2022 wurde mit Herrn B. das entsprechende Gespräch geführt, ... mit Bezug auf "einen Vorfall beim Arbeiten mit Messern am Probierstand Anfang...