Entscheidungsstichwort (Thema)
Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Geschlechtsspezifisch formulierte Stellenausschreibung als Indiz für eine Benachteiligung wegen des Geschlechts. Verständnis einer Stellenausschreibung aus dem objektiven Empfängerhorizont. Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen des Geschlechts aus sachlichem Grund. Verfassungskonforme Auslegung des § 2 Abs. 3 KrO Schleswig-Holstein
Leitsatz (redaktionell)
1. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG schützt nicht nur Männer vor Diskriminierung wegen ihres männlichen Geschlechts und Frauen vor Diskriminierung wegen ihres weiblichen Geschlechts, sondern auch Menschen, die sich diesen beiden Kategorien in ihrer geschlechtlichen Identität nicht zuordnen.
2. Eine geschlechtsspezifisch formulierte Stellenausschreibung lässt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass die abgelehnte Person des in der Ausschreibung nicht bezeichneten Geschlechts aus diesem Grund nicht eingestellt wurde. Die Indizien dazu reichen für eine Vermutung nach § 22 AGG aus.
3. Nach dem objektiven Empfängerhorizont stellt eine Ausschreibung eine selbständige Erklärung des Herausgebers dar. Dabei sind Stellenausschreibungen unter Berücksichtigung des objektiven Inhalts, typischen Sinns und der normalerweise beteiligten Verkehrskreise so zu verstehen, wie sie von einer verständigen und redlich sich bewerbenden Person verstanden werden.
4. Nach § 8 Abs. 1 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit und der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.
5. Dass in § 2 Abs. 3 KrO Schleswig-Holstein bezüglich der Gleichstellungsbeauftragten nur in der weiblichen Form formuliert wurde, ist allein dem Umstand geschuldet, dass seinerzeit im binären Verhältnis gedacht wurde und Männer jedenfalls nicht Gleichstellungsbeauftragte werden sollten. Dies bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber erkennbar zwingend mit dieser Formulierung andere als männliche Geschlechter von der Wahrnehmung des Amtes der Gleichstellungsbeauftragten ausschließen wollte. Bei verfassungskonformer Auslegung ist es möglich, intergeschlechtliche Personen von § 2 Abs. 3 KrO Schleswig-Holstein als mögliche Gleichstellungsbeauftragte zu erfassen.
Normenkette
AGG § 15 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 2-3; KrO SH § 2 Abs. 3; PStG § 22 Abs. 3; AGG §§ 1, 7, 11, 22; ZPO § 286 Abs. 1; GstG SH §§ 17-18, 23
Verfahrensgang
ArbG Elmshorn (Entscheidung vom 21.04.2022; Aktenzeichen 5 Ca 169 c/20) |
Tenor
- Die Berufung des beklagten Kreises gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 21.04.2022 - 5 Ca 169 c/20 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die klagende Partei begehrt nach einer erfolglosen Bewerbung auf eine vom beklagten Kreis ausgeschriebene Stelle als Gleichstellungsbeauftragte Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.
Die Klagepartei wurde als Pseudohermaphrodit, mithin als intergeschlechtlicher Mensch, geboren. Das angeborene biologische Geschlecht stimmte bei der Geburt einst mit der geschlechtlichen Identität überein, d. h. auch diese ist nicht-binär, also eine Variante der Geschlechtsentwicklung. Zahlreiche medizinische Interventionen in der Kindheit beseitigten das angeborene biologische Geschlecht der Klagepartei. Sie kann auch heute weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden. Seit dem Jahr 2009 gilt die Klagepartei als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 50.
Die Klagepartei hat einen Hochschulabschluss als Magistra Juris/Master of Laws, LL.M.. Sie war mehrere Jahre akademisch-wissenschaftlich im höheren Dienst an der Universität H. sowie der Universität G. tätig.
Der beklagte Kreis veröffentlichte im Oktober 2009 folgende Stellenausschreibung:
"Beim Kreis D. ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt die Position der Gleichstellungsbeauftragten unbefristet zu besetzen. Es handelt sich um eine Vollzeitstelle (derzeit 39 Wochenstunden), die grundsätzlich teilbar ist.
Die Gleichstellungsbeauftragte trägt zur Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Kreisverwaltung und im Kreisgebiet bei.
Die Tätigkeit umfasst folgende Aufgabenschwerpunkte:
- Mitwirken bei personellen, organisatorischen und sozialen Angelegenheiten
- Steuerungsunterstützende Beratung der Verwaltungsleitung, der Geschäftsbereiche und der politischen Gremien des Kreises D. bei gleichstellungspolitischen Entscheidungen und Themen
- Koordinierung der Strategie des Gendermainstreamings
- Entwicklung gleichstellungsrelevanter Maßnahmen, Projekte, Fortbildungen
- Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
- Sensibilisierung für geschlechtergerechte Strukturen und mögliche Formen der Diskri-
minierung
- Netzwerk- und Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Gruppen, Verbänden, Vereinen, Institutionen, Behörden sowie privaten und öffentlichen Unte...